Ich trat näher. Meine Finger berührten den Spotttölpel. »Selbst meine Brosche passt jetzt. Spotttölpel sind im Kapitol total angesagt, durch dich. Willst du die Brosche wirklich nicht zurückhaben?«, fragte ich.
»Quatsch, ich hab sie dir geschenkt«, sagte Madge. Sie band die Haare mit einem festlichen Goldband zurück.
»Woher hast du sie eigentlich?«, fragte ich.
»Sie hat meiner Tante gehört«, sagte sie. »Aber ich glaube, sie ist schon lange im Familienbesitz.«
»Merkwürdig, ausgerechnet ein Spotttölpel«, sagte ich. »Ich meine, wegen der Rebellion. Da haben die Schnattertölpel dem Kapitol doch einen Strich durch die Rechnung gemacht.«
Die Schnattertölpel waren Mutationen, genetisch veränderte männliche Vögel, die das Kapitol erschaffen hatte, um Rebellen im Distrikt auszuspionieren. Die Vögel konnten sich viele Wörter merken und sie wiederholen, deshalb wurden sie in die aufständischen Gebiete geschickt, damit sie dem Kapitol berichten konnten, was dort geredet wurde. Die Rebellen bekamen das spitz und setzten die Schnattertölpel gegen das Kapitol ein, indem sie ihnen lauter Lügen erzählten. Als das herauskam, ließ man die Schnattertölpel aussterben. Binnen weniger Jahre kamen sie in der Wildnis nicht mehr vor, doch zuvor hatten sie sich mit weiblichen Spottdrosseln gepaart und eine ganz neue Art erschaffen.
»Aber Spotttölpel sind nie als Waffe eingesetzt worden«, sagte Madge. »Sie sind nur Singvögel. Oder?«
»Ja, das stimmt wohl«, sagte ich. Aber dem ist nicht so. Eine Spottdrossel ist nur ein Singvogel. Ein Spotttölpel ist ein Tier, das es nach dem Willen des Kapitols gar nicht geben dürfte. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass der streng überwachte Schnattertölpel so schlau sein würde, sich an die Wildnis anzupassen, seinen genetischen Code weiterzugeben, sich in neuer Gestalt weiterzuentwickeln. Sie hatten nicht mit seinem Lebenswillen gerechnet.
Während ich jetzt durch den Schnee stapfe, sehe ich die Spotttölpel, wie sie von Zweig zu Zweig hüpfen, während sie die Melodien anderer Vögel aufschnappen, sie nachahmen und in etwas Neues verwandeln. Wie immer erinnern sie mich an Rue. Ich denke an den Traum, den ich letzte Nacht im Zug hatte, als ich sie in Gestalt eines Spotttölpels sah und ihr folgte. Hätte ich doch noch ein wenig länger geschlafen und herausgefunden, wohin sie mich führen wollte.
Zum See ist es ein ganz schöner Marsch, keine Frage. Wenn Gale sich überhaupt entscheidet, mir zu folgen, wird er sich darüber ärgern, dass er so viel Energie verschwendet, die er besser auf die Jagd verwenden könnte. Es war auffällig, dass zu dem Festessen im Haus des Bürgermeisters seine Familie gekommen ist, er selbst aber nicht. Hazelle sagte, er sei krank, das war offensichtlich gelogen. Beim Erntefestival konnte ich ihn auch nicht entdecken. Vick hat mir erzählt, er sei auf der Jagd. Das stimmte wahrscheinlich.
Nach einigen Stunden komme ich zu einem alten Haus nah am Ufer des Sees. »Haus« ist vielleicht übertrieben. Es besteht nur aus einem Zimmer, ungefähr vier Quadratmeter groß. Mein Vater meinte, dass es hier vor langer Zeit viele Häuser gab - man kann noch Teile der Fundamente sehen - und dass die Leute herkamen, um am See zu spielen und zu fischen. Dieses Haus hat die anderen überlebt, weil es aus Beton erbaut wurde. Der Boden, das Dach, die Decke. Nur eines der vier Glasfenster ist erhalten, es ist mit der Zeit wellig und trüb geworden. Strom und fließend Wasser gibt es nicht, aber der Kamin funktioniert noch, und in einer Ecke ist Holz aufgestapelt, das mein Vater und ich vor Jahren gesammelt haben. Ich zünde ein kleines Feuer an, der Nebel dürfte den verräterischen Rauch verbergen. Während das Feuer anfangt zu brennen, fege ich den Schnee weg, der sich unter den Fenstern ohne Scheiben angesammelt hat; ich benutze dafür einen Reisigbesen, den mein Vater mir gemacht hat, als ich ungefähr acht war und hier Vater-Mutter-Kind gespielt habe. Ich setze mich auf die kleine Betonplatte des Kamins, lasse mich am Feuer auftauen und warte auf Gale.
Überraschend schnell taucht er auf. Er trägt einen Bogen über der Schulter und an seinem Gürtel hängt ein toter Truthahn. Gale steht in der Tür, als überlegte er, ob er hereinkommen soll oder nicht. Er hält den ungeöffneten Lederbeutel mit Essen in den Händen, die Thermoskanne, Cinnas Handschuhe. Geschenke, die er nicht annehmen will, weil er so wütend auf mich ist. Ich weiß genau, wie es in ihm aussieht. Habe ich nicht dasselbe mit meiner Mutter gemacht?
Ich schaue ihm in die Augen. Seine Wut kann nicht ganz überdecken, wie verletzt er ist, wie verraten er sich wegen meiner Verlobung mit Peeta fühlt. Dieses Treffen heute ist meine letzte Chance, Gale nicht für immer zu verlieren. Ich könnte ihm stundenlang alles erklären und selbst dann noch könnte er mich zurückweisen. Stattdessen komme ich direkt zum Hauptpunkt meiner Verteidigung.
»Präsident Snow hat mir persönlich damit gedroht, dich töten zu lassen«, sage ich.
Gale hebt die Augenbrauen, aber richtig ängstlich oder überrascht sieht er nicht aus. »Sonst noch jemanden?«
»Nun ja, er hat mir nicht direkt eine Liste überreicht. Aber wir können wohl davon ausgehen, dass unsere beiden Familien betroffen sind«, sage ich.
Jetzt kommt er doch zum Kamin. Er hockt sich vor das Feuer und wärmt sich auf. »Es sei denn?«
»Kein >es sei denn<, so, wie es jetzt aussieht«, sage ich. Das müsste ich natürlich genauer erklären, aber ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, also sitze ich nur da und starre bedrückt ins Feuer.
Nach einer Weile bricht Gale das Schweigen. »Tja, danke für die Warnung.«
Ich drehe mich zu einer schroffen Erwiderung um, als ich das Funkeln in seinen Augen sehe. Ich hasse mich dafür, dass ich lächeln muss. An der Situation ist nichts Komisches, aber es ist wohl ein bisschen viel auf einmal. Sie werden uns alle auslöschen, ganz gleich, was passiert. »Ich hab einen Plan, weißt du.«
»Ja, der ist bestimmt klasse«, sagt er. Er schmeißt mir die Handschuhe auf den Schoß. »Da. Ich will keine abgelegten Handschuhe von deinem Verlobten haben.«
»Er ist nicht mein Verlobter. Das ist Teil der Komödie. Und die Handschuhe sind auch nicht von ihm. Sie haben Cinna gehört«, sage ich.
»Dann gib sie wieder her«, sagt er. Er zieht die Handschuhe an, bewegt die Finger und nickt anerkennend. »Wenigstens werde ich mit warmen Händen sterben.«
»Sehr optimistisch. Du weißt ja gar nicht, was passiert ist«, sage ich.
»Lass hören«, sagt er.
Ich fange mit dem Abend an, als Peeta und ich zu den Siegern der Hungerspiele gekrönt wurden und Haymitch mich vor dem Zorn des Kapitols warnte. Ich erzähle von der Sorge, die mich nicht losließ, selbst als ich schon zu Hause war, von Präsident Snows Besuch, den Morden in Distrikt 11, den Spannungen in der Bevölkerung, dem allerletzten Rettungsversuch durch die Verlobung, der Andeutung des Präsidenten, dass es nicht gereicht hat, von meiner Überzeugung, dass ich werde büßen müssen.
Gale unterbricht mich kein einziges Mal. Während ich erzähle, steckt er die Handschuhe in die Tasche und bereitet aus dem Kissen im Lederbeutel eine Mahlzeit für uns. Er röstet Brot und Käse, entkernt Äpfel, legt Kastanien zum Rösten ins Feuer. Ich beobachte seine Hände, seine schönen, geschickten Finger. Narbig, so wie meine waren, ehe im Kapitol meine Haut geglättet wurde, aber stark und flink. Diese Hände sind kräftig genug, Kohle zu hauen, und fein genug, komplizierte Fallen zu bauen. Es sind Hände, denen ich vertraue.
Ich halte inne und trinke einen Schluck Tee aus der Thermoskanne, ehe ich von meiner Heimkehr erzähle.
»Da hast du ja ein ganz schönes Durcheinander angerichtet«, sagt er.
»Ich bin noch gar nicht fertig«, erwidere ich.
»Ich hab vorerst genug gehört. Überspring den Rest und erzähl von deinem Plan«, sagt er.
Ich atme tief durch. »Wir hauen ab.«
»Was?«, sagt er. Damit hat er überhaupt nicht gerechnet.