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»Es sieht wohl für keinen von uns besonders rosig aus«, sagt Haymitch.

Es fängt an zu schneien, dicke nasse Flocken, dadurch kann ich noch schlechter sehen. Ich stolpere hinter den anderen her bis zu unserem Haus, lasse mich mehr von meinen Ohren leiten als von meinen Augen. Meine Mutter, die natürlich auf mich gewartet hat, nachdem ich einen langen Tag ohne Erklärung weggeblieben bin, versucht zu begreifen, was sie sieht.

»Neuer Oberster«, sagt Haymitch, und sie nickt nur kurz, als würde das alles erklären.

Wie immer erfüllt mich Ehrfurcht, als ich sehe, wie sie sich von der Frau, die mich ruft, damit ich eine Spinne töte, in eine Frau verwandelt, die immun ist gegen Angst. Wenn man ihr einen kranken oder sterbenden Menschen bringt… ich glaube, das sind die einzigen Momente, in denen meine Mutter weiß, wer sie ist. Im Nu ist der lange Küchentisch abgeräumt, ein steriles weißes Tuch wird darüber ausgebreitet und Gale hinaufgelegt. Meine Mutter gießt Wasser aus einem Kessel in eine Schüssel und lässt Prim verschiedene Medikamente aus dem Arzneischrank holen. Getrocknete Kräuter und Tinkturen und im Laden gekaufte Flaschen. Ich beobachte die Hände meiner Mutter, die langen, schmal zulaufenden Finger, die etwas in die Schüssel bröseln und Tropfen dazugeben. Sie tränkt ein Tuch in der heißen Flüssigkeit und weist Prim an, frisches Wasser aufzusetzen.

Meine Mutter schaut zu mir. »Bist du im Auge getroffen worden?«

»Nein, es ist nur zugeschwollen«, erkläre ich.

»Pack noch mal Schnee drauf«, sagt sie. Aber es gibt Wichtigeres als mich, das ist deutlich.

»Kannst du ihn retten?«, frage ich. Sie sagt nichts, während sie das Tuch auswringt und es in die Luft hält, damit es ein wenig abkühlt.

»Keine Bange«, sagt Haymitch. »Vor Crays Zeit wurde hier eine Menge gepeitscht. Wir haben sie immer alle zu deiner Mutter gebracht.«

An eine Zeit vor Cray kann ich mich nicht erinnern, an eine Zeit, als es einen Obersten Friedenswächter gab, der häufigen Gebrauch von der Peitsche machte. Da muss meine Mutter in meinem Alter gewesen sein und noch bei ihren Eltern in der Apotheke gearbeitet haben. Selbst damals hatten ihre Hände schon heilende Kräfte.

Ganz sanft beginnt sie das zerfetzte Fleisch auf Gales Rücken zu säubern. Ich fühle mich elend, nutzlos, der restliche Schnee tropft von meinem Handschuh und bildet auf dem Fußboden eine Pfütze. Peeta setzt mich in einen Sessel und hält mir ein Tuch mit frischem Schnee an die Wange.

Haymitch schickt Bristel und Thom nach Hause, und ich sehe, dass er ihnen Münzen in die Hand drückt, bevor sie gehen. »Keine Ahnung, was mit eurer Mannschaft passiert«, sagt er. Sie nicken und nehmen das Geld.

Da kommt Hazelle, atemlos, die Wangen gerötet und Schnee im Haar. Stumm setzt sie sich auf einen Hocker am Tisch, nimmt Gales Hand und drückt sie an die Lippen. Nicht einmal auf sie reagiert meine Mutter. Sie ist in diese gewisse Sphäre eingetreten, in der nur sie und der Patient Platz haben, hin und wieder auch Prim. Wir anderen können warten.

Trotz ihrer kundigen Hände dauert es lange, bis die Wunden gesäubert sind, bis das, was von der zerfetzten Haut noch zu retten ist, halbwegs hergerichtet, bis eine Salbe aufgetragen und ein leichter Verband umgelegt ist. Als das Blut weniger wird, sehe ich, wo jeder einzelne Peitschenhieb aufgekommen ist, und spüre den Nachhall in dem einen Striemen in meinem Gesicht. Ich multipliziere meinen eigenen Schmerz mit zwei, mit drei, mit vierzig und kann nur hoffen, dass Gale vorerst nicht zu Bewusstsein kommt. Das ist natürlich zu viel verlangt. Als die letzten Verbände angelegt werden, kommt ein Stöhnen über seine Lippen. Hazelle streicht ihm übers Haar und flüstert etwas, während meine Mutter und Prim ihren kärglichen Vorrat an Schmerzmitteln in Augenschein nehmen, Schmerzmittel, wie normalerweise nur Ärzte sie haben. Sie sind schwer zu bekommen, teuer und immer begehrt. Die stärksten muss meine Mutter für die schlimmsten Schmerzen aufbewahren, doch was sind die schlimmsten Schmerzen? Für mich sind es immer die Schmerzen, die gerade akut sind. Wenn ich zu bestimmen hätte, wären die Schmerzmittel in einem Tag aufgebraucht, weil ich es kaum ertragen kann, jemanden leiden zu sehen. Meine Mutter versucht sie für diejenigen aufzuheben, die im Sterben liegen, um ihnen den Abschied von der Welt zu erleichtern.

Da Gale wieder zu Bewusstsein kommt, entscheiden sie sich für eine Kräutermischung, die er schlucken kann. »Das reicht ganz bestimmt nicht«, sage ich. Sie starren mich an. »Das reicht nicht, ich weiß, wie es sich anfühlt. Damit kommt man ja kaum gegen Kopfschmerzen an.«

»Wir kombinieren es mit Schlafsirup, Katniss, dann schafft er das schon. Die Kräuter sind eher gegen die Entzündung …«, erklärt meine Mutter ruhig.

»Jetzt gib ihm schon die Medizin!«, schreie ich sie an. »Na los! Wer bist du überhaupt, dass du meinst, du könntest entscheiden, wie viel Schmerzen er ertragen kann!«

Gale bewegt sich unruhig, als er meine Stimme hört, er streckt die Arme nach mir aus. Durch die Bewegung tritt frisches Blut aus den Wunden und befleckt die Verbände, Gale stößt einen Schmerzenslaut aus.

»Bringt sie raus«, sagt meine Mutter. Haymitch und Peeta tragen mich buchstäblich aus dem Zimmer, während ich meine Mutter übel beschimpfe. Sie drücken mich auf ein Bett in einem der Gästezimmer und halten mich fest, bis ich mich nicht mehr wehre.

Während ich daliege und schluchze und die Tränen sich aus dem Schlitz quälen, der mein Auge ist, höre ich, wie Peeta Haymitch im Flüsterton von Präsident Snow und dem Aufstand in Distrikt 8 erzählt. »Sie will, dass wir alle fliehen«, sagt er, doch falls Haymitch dazu eine Meinung hat, behält er sie für sich.

Nach einer Weile kommt meine Mutter herein und behandelt mein Gesicht. Dann hält sie meine Hand und streichelt meinen Arm, während Haymitch ihr erzählt, was mit Gale passiert ist.

»Dann geht es also wieder los?«, sagt sie. »Wie damals?«

»Sieht ganz so aus«, sagt er. »Wer hätte gedacht, dass wir dem alten Cray mal nachtrauern würden?«

Cray wäre so oder so unbeliebt gewesen, weil er eine Uniform trug, aber außerdem wurde er im Distrikt für die Gewohnheit verabscheut, hungernde junge Frauen gegen Geld in sein Bett zu locken. In richtig schlechten Zeiten versammelten sich die Hungrigsten abends vor seiner Tür und wetteiferten um die Gelegenheit, ihren Körper für ein paar Münzen zu verkaufen und damit ihre Familien über Wasser zu halten. Wäre ich älter gewesen, als mein Vater starb, wäre ich vielleicht eine von ihnen geworden. Stattdessen lernte ich, wie man jagt.

Ich weiß nicht genau, was meine Mutter meint, wenn sie sagt, dass es wieder losgeht, aber ich habe zu große Schmerzen und zu viel Wut im Bauch, um zu fragen. Doch ich habe verstanden, dass wieder schlechte Zeiten kommen könnten, denn als es an der Tür klingelt, springe ich sofort aus dem Bett. Wer kann das zu dieser späten Stunde sein? Es gibt nur eine Möglichkeit. Die Friedenswächter.

»Sie kriegen ihn nicht«, sage ich.

»Vielleicht sind sie ja hinter dir her«, sagt Haymitch.

»Oder hinter dir«, erwidere ich.

»Ist nicht mein Haus«, bemerkt Haymitch. »Aber ich geh trotzdem zur Tür.«

»Nein, ich gehe schon«, sagt meine Mutter ruhig.

Doch dann folgen wir alle ihr durch den Flur zu dem durchdringenden Klingeln an der Tür. Sie öffnet, aber da steht kein Trupp von Friedenswächtern, sondern eine einzelne, verschneite Gestalt. Madge. Sie reicht mir eine kleine feuchte Pappschachtel.

»Die sind für deinen Freund«, sagt sie. Ich nehme den Deckel von der Schachtel ab und sehe sechs Ampullen mit einer durchsichtigen Flüssigkeit. »Sie gehören meiner Mutter. Sie hat gesagt, ich kann sie nehmen. Bitte gib sie ihm.« Sie läuft zurück in den Schneesturm, ehe ich sie zurückhalten kann.

»Verrücktes Mädchen«, murmelt Haymitch, während wir, meine Mutter voran, in die Küche gehen.