»Als wir hörten, dass du aufwachst, ist er nach Hause gegangen. Er wollte sein Haus während des Sturms nicht unbeaufsichtigt lassen«, sagt meine Mutter.
»Ist er gut nach Hause gekommen?«, frage ich. Bei einem solchen Schneesturm kann man sich auf wenigen Metern verirren und im Nichts landen.
»Ruf ihn doch an, dann weißt du’s«, sagt sie.
Ich gehe ins Arbeitszimmer, das ich seit der Begegnung mit Präsident Snow weitgehend gemieden habe, und wähle Peetas Nummer. Es klingelt ein paarmal, dann geht er dran.
»Hi. Ich wollte nur wissen, ob du gut nach Hause gekommen bist«, sage ich.
»Katniss, ich wohne drei Häuser von dir entfernt«, sagt er.
»Ich weiß, aber bei dem Wetter …«, sage ich.
»Also, es geht mir gut. Danke der Nachfrage.« Es folgt eine lange Pause. »Wie geht es Gale?«
»Ganz gut. Meine Mutter und Prim behandeln ihn gerade mit Schneebalsam«, sage ich.
»Und dein Gesicht?«, fragt er.
»Ich hab auch ein bisschen abgekriegt«, antworte ich. »Hast du Haymitch heute schon gesehen?«
»Ich war bei ihm. Er war sturzbetrunken. Aber ich hab Feuer gemacht und ihm etwas Brot dagelassen«, sagt er.
»Ich wollte mit … mit euch beiden reden.« Mehr wage ich nicht zu sagen, nicht hier am Telefon, das garantiert abgehört wird.
»Da musst du wohl warten, bis das Wetter sich beruhigt«, sagt er. »Vorher wird sowieso nicht viel passieren.« »Nein, nicht viel«, sage ich.
Es dauert zwei Tage, bis sich der Sturm ausgetobt hat, und danach liegen überall Schneeberge, die höher sind als ich. Ein weiterer Tag, bis der Weg vom Dorf der Sieger zum Platz geräumt ist. Ich helfe so lange Gale zu pflegen, halte mir Schneebalsam an die Wange und versuche, mich an alles über den Aufstand in Distrikt 8 zu erinnern, was ich weiß, denn es könnte für unsere Sache hilfreich sein. Die Schwellung in meinem Gesicht geht zurück, jetzt habe ich nur noch eine juckende Wunde, die langsam verheilt, und ein sehr blaues Auge. Trotzdem frage ich bei der ersten Gelegenheit Peeta, ob er mich in die Stadt begleitet.
Wir wecken Haymitch und schleifen ihn mit. Er beschwert sich, aber nicht so wie sonst. Wir wissen alle drei, dass wir über das sprechen müssen, was passiert ist, und in unseren Häusern im Dorf der Sieger wäre das viel zu gefährlich. Wir warten sogar, bis das Dorf ein ganzes Stück hinter uns liegt, ehe wir überhaupt etwas sagen. Während wir gehen, betrachte ich die drei Meter hohen Schneewände, die zu beiden Seiten des schmalen Weges aufragen, und frage mich, ob sie wohl auf uns einstürzen.
Schließlich bricht Haymitch das Schweigen. »Dann machen wir uns jetzt alle auf ins große Unbekannte, wie?«, sagt er zu mir.
»Nein«, sage ich. »Jetzt nicht mehr.«
»Sind dir die Fehler in deinem Plan aufgefallen, Süße?«, fragt er. »Irgendwelche neuen Ideen?«
»Ich will einen Aufstand organisieren«, sage ich.
Haymitch lacht nur. Es ist noch nicht mal ein fieses Lachen und deshalb umso beunruhigender. Es zeigt, dass er mich überhaupt nicht ernst nimmt. »Also, ich brauch jetzt was zu trinken. Aber halt mich auf dem Laufenden, wie du vorgehen willst«, sagt er.
»Was hast du denn für einen Plan?«, fahre ich ihn an.
»Mein Plan besteht darin, dafür zu sorgen, dass eure Hochzeit perfekt über die Bühne geht«, sagt Haymitch. »Ich hab angerufen und einen neuen Fototermin ausgemacht, ohne allzu viele Einzelheiten zu verraten.«
»Du hast doch gar kein Telefon«, sage ich.
»Effie hat es reparieren lassen«, sagt er. »Weißt du, dass sie mich gefragt hat, ob ich dich gern verraten würde? Ich hab ihr gesagt, je eher, desto besser.«
»Haymitch.« Ich höre selbst, dass ich anfange zu betteln.
»Katniss.« Er ahmt meinen Tonfall nach. »Das haut nicht hin.«
Wir verstummen, als eine Gruppe von Männern mit Schneeschippen an uns vorbei in Richtung Dorf der Sieger geht. Vielleicht können sie etwas gegen die drei Meter hohen Schneewände ausrichten. Als sie außer Hörweite sind, sind wir schon zu nah am Platz. Wir bleiben alle drei gleichzeitig stehen.
Während des Schneesturms wird sowieso nicht viel passieren. Darin waren Peeta und ich uns einig. Aber wir lagen vollkommen falsch. Der Platz ist verwandelt worden. Eine riesige Flagge mit dem Wappen von Panem ziert das Justizgebäude. Friedenswächter in makellos weißen Uniformen marschieren über das ordentlich gefegte Kopfsteinpflaster. Auf den Dächern sind weitere Friedenswächter und besetzen Maschinengewehrnester. Das Schlimmste ist eine Reihe neuer Konstruktionen mitten auf dem Platz: ein offizieller Pfahl für Auspeitschungen, mehrere Pranger und ein Galgen.
»Thread arbeitet schnell«, sagt Haymitch.
Ein paar Straßen weiter sehe ich ein großes Feuer lodern. Keiner von uns muss es aussprechen. Das kann nur der Hob sein, der in Flammen aufgeht. Ich denke an Greasy Sae, an Ripper, an all meine Freunde, die sich dort ihr Brot verdienen.
»Haymitch, du glaubst doch nicht, dass die alle noch dadrin …« Ich kann nicht zu Ende sprechen.
»Nein, so dumm sind die nicht. Das wärst du auch nicht, wenn du schon länger hier wärst«, sagt er. »Na, ich geh jetzt mal lieber zur Apotheke und gucke, wie viel Reinigungsalkohol die erübrigen können.«
Er trottet über den Platz davon und ich schaue Peeta an. »Wofür braucht er den denn?« Dann begreife ich. »Wir müssen verhindern, dass er das Zeug trinkt. Sonst bringt er sich um oder wird mindestens blind. Ich hab zu Hause noch etwas klaren Schnaps beiseitegelegt.«
»Ich auch. Vielleicht kommt er damit hin, bis Ripper sich neue Geschäftswege überlegt hat«, sagt Peeta. »Ich muss jetzt nach meiner Familie sehen.«
»Ich muss zu Hazelle.« Auf einmal mache ich mir Sorgen. Ich hätte gedacht, sie würde bei uns vor der Tür stehen, sobald der Schnee geräumt wäre. Aber bisher ist sie nicht aufgetaucht.
»Ich komme mit. Bei der Bäckerei schaue ich dann auf dem Heimweg vorbei«, sagt er.
»Danke.« Plötzlich habe ich große Angst davor, was ich vorfinden könnte.
Die Straßen sind fast verlassen, was zu dieser Tageszeit nicht so ungewöhnlich wäre, wenn die Leute in den Bergwerken wären, die Kinder in der Schule. Aber das sind sie nicht. Hinter den Eingangstüren und durch die Ritzen in den Rollläden sehe ich Gesichter, die uns beobachten.
Ein Aufstand, denke ich. Was bin ich für ein Dummkopf. Der Plan hat einen Fehler, den weder Gale noch ich erkannt haben, wir waren beide blind. Wenn man einen Aufstand machen will, muss man gegen das Gesetz verstoßen, sich der Obrigkeit widersetzen. Wir und unsere Familien haben das ein Leben lang getan. Wir haben gewildert, auf dem Schwarzmarkt gehandelt, uns im Wald über das Kapitol lustig gemacht. Doch die meisten Bewohner von Distrikt 12 würden nicht mal das Risiko eingehen, auf dem Schwarzmarkt einzukaufen. Und ich erwarte von ihnen, dass sie sich mit Pflastersteinen und Fackeln auf dem Platz versammeln? Schon der Anblick von Peeta und mir reicht aus, dass sie ihre Kinder von den Fenstern wegzerren und die Vorhänge zuziehen.
Hazelle ist zu Hause und pflegt eine sehr kranke Posy. Ich sehe die Flecken auf ihrem Körper, es sind die Masern. »Ich konnte sie nicht allein lassen«, sagt Hazelle. »Ich wusste ja, dass Gale die bestmögliche Pflege bekommt.«
»Natürlich«, sage ich. »Es geht ihm schon viel besser. Meine Mutter meint, in ein paar Wochen kann er wieder in die Bergwerke.«
»Vielleicht sind die dann noch gar nicht wieder in Betrieb«, sagt Hazelle. »Es heißt, dass sie bis auf Weiteres geschlossen wurden.« Sie schaut beunruhigt zu ihrem leeren Waschzuber.