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Cray, der Oberste Friedenswächter, runzelt die Stirn, als er mich mit den Flaschen sieht. Er ist ein älterer Mann mit ein paar silbernen Haarsträhnen, die er schräg über den knallroten Kopf gekämmt hat. »Das Zeug ist zu stark für dich, Mädchen.« Er muss es ja wissen. Abgesehen von Haymitch trinkt Cray mehr als alle, die ich kenne.

»Ach, meine Mutter braucht es für ihre Medizin«, sage ich leichthin.

»Tja, damit kann man alles abtöten«, sagt er und knallt eine Münze für eine Flasche auf den Tresen.

Als ich zu Greasy Saes Stand komme, hieve ich mich auf den Tresen und bestelle etwas Suppe, die nach einer Mischung aus Flaschenkürbis und Bohnen aussieht. Während ich esse, kommt ein Friedenswächter namens Darius und bestellt auch eine Portion. Von den Gesetzeshütern ist er mir noch der liebste. Er ist nicht so ein Wichtigtuer und meistens zu einem Spaß aufgelegt. Er dürfte in den Zwanzigern sein, sieht jedoch kaum älter aus als ich. Irgendetwas an seinem Lächeln und seinen roten Haaren, die in alle Richtungen abstehen, lässt ihn jungenhaft wirken.

»Müsstest du nicht schon im Zug sitzen?«, fragt er.

»Ich werde um zwölf abgeholt«, sage ich.

»Müsstest du nicht besser aussehen?«, fragt er flüsternd, aber so, dass es jeder hören kann. Obwohl ich nicht in der Stimmung bin, muss ich über seine Neckerei lächeln. »Vielleicht eine Schleife im Haar oder so?« Er zieht kurz an meinem Zopf und ich schiebe seine Hand weg.

»Keine Sorge. Wenn sie mit mir fertig sind, wirst du mich nicht wiedererkennen«, sage ich.

»Gut«, sagt er. »Zeig zur Abwechslung mal ein bisschen Stolz auf deinen Distrikt, Miss Everdeen. Hm?« Er schaut Greasy Sae im Spaß missbilligend an und schüttelt den Kopf, dann geht er zu seinen Freunden.

»Die Suppenschale krieg ich aber wieder!«, ruft Greasy Sae ihm nach, aber sie lacht dabei, deshalb klingt es nicht besonders streng. »Kommt Gale dich verabschieden?«, fragt sie mich.

»Nein, er stand nicht auf der Liste«, sage ich. »Aber ich hab ihn Sonntag gesehen.«

»Ach, ich hätte gedacht, dass er auf der Liste steht. Wo er doch dein Cousin ist«, sagt sie ironisch.

Das ist ein weiterer Teil der Lügengeschichte, die sie sich im Kapitol ausgedacht haben. Als Peeta und ich bei den Hungerspielen unter die letzten acht kamen, wurden Reporter losgeschickt, die persönliche Geschichten über uns bringen sollten. Als sie nach meinen Freunden fragten, haben alle auf Gale verwiesen. Aber das konnten sie nicht schreiben, denn in der Arena spielte ich ja die Liebesgeschichte, und da konnte ich nicht Gale als besten Freund haben. Er sah zu gut aus, zu männlich, und er war kein bisschen bereit, für die Kameras zu lächeln und den netten Jungen von nebenan zu spielen. Und wir sehen uns tatsächlich ganz schön ähnlich. Wir haben das typische Aussehen des Saums. Dunkle glatte Haare, olivfarbene Haut. Also hat irgendein Schlaukopf ihn zu meinem Cousin ernannt. Ich wusste nichts davon, bis wir wieder zu Hause waren, auf dem Bahnsteig, und meine Mutter sagte: »Deine Cousins können es kaum erwarten, dich wiederzusehen!« Da drehte ich mich um und sah Gale und Hazelle und die Kinder - was blieb mir anderes übrig, als mitzuspielen?

Greasy Sae weiß, dass wir nicht verwandt sind, aber selbst manche Leute, die uns schon jahrelang kennen, scheinen es vergessen zu haben.

»Ich kann es kaum erwarten, es hinter mir zu haben«, flüstere ich.

»Ich weiß«, sagt Greasy Sae. »Aber du musst da durch, um es hinter dir zu haben. Also sieh zu, dass du nicht zu spät kommst.«

Als ich mich auf den Weg zum Dorf der Sieger mache, fängt es ein wenig an zu schneien. Das Dorf liegt nur einen knappen Kilometer von dem Platz im Stadtzentrum entfernt, aber es scheint wie eine völlig andere Welt.

Es ist eine eigene kleine Gemeinde, die um eine schöne Grünfläche herum errichtet wurde, dazwischen blühende Sträucher. Zwölf Häuser, jeweils so groß, dass zehn von der Sorte hineinpassen würden, in der ich aufgewachsen bin. Neun davon stehen leer, wie immer schon. Die drei, die bewohnt sind, gehören Haymitch, Peeta und mir.

Die Häuser, in denen meine Familie und Peeta leben, haben eine warme, lebendige Ausstrahlung. Licht hinter den Fenstern, Rauch aus dem Schornstein, leuchtende Maisbüschel, mit denen der Eingang zum bevorstehenden Erntefest geschmückt ist. Haymitchs Haus dagegen wirkt, obwohl der Hausmeister sich um alles kümmert, trostlos und verwahrlost. Vor der Haustür mache ich mich auf den Dreck gefasst, der mich drinnen erwartet.

Unwillkürlich rümpfe ich die Nase. Haymitch weigert sich, jemanden zum Saubermachen hineinzulassen, und er selbst putzt nicht gerade gründlich. Im Lauf der Jahre haben sich die Gerüche von Schnaps und Erbrochenem, gekochtem Kohl und angebranntem Fleisch, ungewaschenen Kleidern und Mäusedreck zu einem Gestank vermischt, der mir die Tränen in die Augen treibt. Ich bahne mir einen Weg durch weggeworfene Verpackungen, Glasscherben und Knochen bis zu der Stelle, wo Haymitch normalerweise zu finden ist. Er sitzt am Küchentisch, die Arme über die Holzplatte ausgebreitet, das Gesicht in einer Schnapspfütze, und schnarcht, was das Zeug hält.

Ich rüttele ihn an der Schulter. »Aufstehen!«, sage ich laut, denn inzwischen weiß ich, dass man ihn auf die sanfte Tour nicht wach bekommt. Für einen Moment setzt sein Schnarchen aus, wie ein kurzes Zögern, dann geht es wieder los. Ich rüttele ihn fester. »Aufstehen, Haymitch! Heute beginnt die Tour der Sieger!« Mit Gewalt öffne ich das Fenster und sauge die frische Luft tief ein. Dann stapfe ich durch den Müll auf dem Boden, fördere eine Kaffeekanne aus Blech zutage und fülle sie am Waschbecken mit Wasser. Der Ofen ist noch nicht ganz aus, und ich schaffe es, den wenigen glühenden Kohlen eine Flamme zu entlocken. Ich schütte Kaffeepulver in die Kanne, so viel, dass es auf jeden Fall ein gutes, starkes Gebräu ergibt, und stelle sie zum Kochen auf den Ofen.

Haymitch ist immer noch weggetreten. Da alles andere nichts genützt hat, fülle ich eine Schale mit eiskaltem Wasser, kippe sie ihm über den Kopf und bringe mich in Sicherheit. Er stößt einen kehligen, animalischen Laut aus. Er springt auf, wobei der Stuhl drei Meter nach hinten fliegt, und schwingt ein Messer. Ich hatte vergessen, dass er immer mit dem Messer in der Hand schläft. Ich hätte es ihm aus der Hand nehmen sollen, aber ich hatte zu vieles zu bedenken. Er flucht wie ein Kesselflicker und schlägt mehrmals um sich, ehe er zu sich kommt. Mit dem Hemdsärmel wischt er sich über das Gesicht und dreht sich dann zu mir um. Ich hocke auf dem Fenstersims, für den Fall, dass ich schnell Reißaus nehmen muss.

»Was soll das?«, fährt er mich an.

»Du hast gesagt, ich soll dich wecken, eine Stunde bevor die Kameras kommen«, erkläre ich. »Was?«, sagt er. »Es war deine Idee«, sage ich.

Jetzt scheint er sich zu erinnern. »Wieso bin ich klatschnass?«

»Ich hab dich nicht wach gekriegt«, sage ich. »Hey, wenn du verhätschelt werden willst, musst du Peeta fragen.«

»Was soll er mich fragen?« Beim bloßen Klang seiner Stimme bekomme ich im Bauch einen Knoten aus lauter unangenehmen Gefühlen: schlechtes Gewissen, Trauer, Angst. Und Sehnsucht. Ich kann ruhig zugeben, dass die auch hineinspielt. Aber gegen die anderen Gefühle hat sie keine Chance.

Ich schaue Peeta an, während er zum Tisch kommt. Die Sonnenstrahlen fangen sich im glitzernden Schnee in seinem blonden Haar. Er sieht stark und gesund aus, so ganz anders als der kranke, halb verhungerte Junge, den ich aus der Arena kenne, und sein Hinken fällt kaum noch auf. Er legt ein frisch gebackenes Brot auf den Tisch und hält Haymitch die Hand hin.