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Seit den Hungerspielen war die Unzufriedenheit in Distrikt 8 immer größer geworden. In gewissem Maß war sie natürlich immer da gewesen. Nur genügte es jetzt nicht mehr zu reden, und die Idee, zur Tat zu schreiten, wurde vom Wunsch zur Realität. In den Textilfabriken, die Panem beliefern, ist es immer laut von den Maschinen, und bei dem Lärm war es ein Leichtes, etwas weiterzusagen, Lippen dicht an einem Ohr, Worte unbemerkt, ungehindert. Twill unterrichtete an der Schule, Bonnie war eine ihrer Schülerinnen, und nach Schulschluss rissen sie zusammen noch eine Vierstundenschicht in der Fabrik ab, die sich auf Uniformen für die Friedenswächter spezialisiert hatte. Bonnie, die in der kalten Fertigungskontrolle arbeitete, brauchte Monate, bis sie die beiden Uniformen beschafft hatte, einen Stiefel hier, eine Hose da. Sie waren für Twill und ihren Mann gedacht, denn wenn der Aufstand größere Kreise ziehen und erfolgreich sein sollte, mussten sie die Nachricht selbstverständlich über Distrikt 8 hinaus verbreiten.

An dem Tag, als Peeta und ich unseren Auftritt bei der Tour der Sieger hatten, fand eine Art Generalprobe statt. Die Leute in der Menge stellten sich in ihren Gruppen auf, an den Gebäuden, die sie ins Visier nehmen wollten, wenn der Aufstand ausbrach. Das war der Plan: die Zentren der Macht in der Stadt zu übernehmen, also das Justizgebäude, das Hauptquartier der Friedenswächter und das Kommunikationszentrum auf dem Platz. Und anderswo im Distrikt: die Eisenbahn, den Kornspeicher, das Elektrizitätswerk und das Waffenlager.

Der Abend meiner Verlobung, der Abend, an dem Peeta auf die Knie fiel und im Kapitol vor laufenden Kameras seine unsterbliche Liebe zu mir gestand, das war der Abend, an dem der Aufstand begann. Das Interview mit Caesar Flickerman auf unserer Tour der Sieger bot einen optimalen Deckmantel. Es war Pflichtprogramm für alle, und so hatte das Volk von Distrikt 8 einen Vorwand, nach Einbruch der Dunkelheit auf den Straßen zu sein. Sie versammelten sich zum Zuschauen entweder auf dem Platz oder an verschiedenen Treffpunkten in der Stadt. Normalerweise wäre ein solches Treiben zu verdächtig gewesen. So jedoch waren alle zur vorgeschriebenen Zeit, um acht Uhr, zur Stelle, als die Masken aufgesetzt wurden und die Hölle ausbrach.

Anfangs wurden die Friedenswächter von der Menge überwältigt, auf einen solchen Massenaufstand waren sie nicht vorbereitet. Das Kommunikationszentrum, der Kornspeicher und das Elektrizitätswerk wurden sämtlich eingenommen. Die Rebellen nahmen die Waffen der toten Friedenswächter an sich. Es gab Hoffnung, dass das Ganze keine Wahnsinnstat war, dass es, wenn sich die Nachricht in den anderen Distrikten verbreitete, irgendwie möglich wäre, die Regierung zu stürzen.

Doch dann schlug das Kapitol zurück. Friedenswächter kamen zu Tausenden. Hovercrafts zerbombten die Stützpunkte der Rebellen. In dem Chaos, das folgte, waren die Leute schon froh, wenn sie es lebend nach Hause schafften. In weniger als achtundvierzig Stunden war die Stadt bezwungen. Dann wurde sie eine Woche lang abgeriegelt. Keine Lebensmittel, keine Kohle, Ausgangssperre. Nur einmal war im Fernsehen etwas anderes als Schnee zu sehen, das war, als diejenigen, die als Rädelsführer verdächtigt wurden, auf dem Platz gehängt wurden. Dann, eines Nachts, als der gesamte Distrikt zu verhungern drohte, kam plötzlich der Befehl, wieder zur Tagesordnung überzugehen.

Für Bonnie und Twill bedeutete das, dass sie wieder in die Schule mussten. Weil eine Straße durch die Bombardierung unzugänglich war, kamen sie zu spät zu ihrer Schicht in der Fabrik, und so waren sie hundert Meter entfernt, als das Gebäude in die Luft flog und alle, die darin waren, ums Leben kamen - darunter Twills Mann und Bonnies ganze Familie.

»Irgendjemand muss dem Kapitol gesteckt haben, dass der Plan für den Aufstand dort entstanden ist«, sagt Twill mit schwacher Stimme.

Die beiden flohen zu Twill nach Hause, wo die Uniformen der Friedenswächter noch warteten. Sie kratzten so viel Proviant wie möglich zusammen, bedienten sich bei Nachbarn, von denen sie wussten, dass sie tot waren, und schafften es zum Bahnhof. In einem Lager in der Nähe der Gleise zogen sie sich die Uniformen der Friedenswächter an und schafften es in dieser Verkleidung bis zu einem mit Stoff beladenen Güterwagen. Der Zug hatte Distrikt 6 zum Ziel, sie flohen unterwegs während eines Tankstopps und gelangten vor zwei Tagen ins Randgebiet von Distrikt 12, wo sie einen Halt einlegen mussten, als Bonnie sich den Knöchel verstauchte.

»Ich verstehe, weshalb ihr auf der Flucht seid, aber was erwartet ihr euch in Distrikt 13?«, frage ich.

Bonnie und Twill wechseln einen nervösen Blick. »Das wissen wir nicht genau«, sagt Twill.

»Da sind doch nur Trümmer«, sage ich. »Wir haben alle die Aufnahmen gesehen.«

»Das ist es ja. Solange wir in Distrikt 8 zurückdenken können, zeigen sie immer dieselben Aufnahmen«, erklärt Twill.

»Wirklich?« Ich versuche mich zu erinnern, mir Bilder von Distrikt 13 vor Augen zu führen, die ich aus dem Fernsehen kenne.

»Du weißt doch, dass sie immer das Justizgebäude zeigen?«, fährt Twill fort. Ich nicke. Ich habe es schon tausendmal gesehen. »Wenn du ganz genau hinsiehst, kannst du ihn erkennen. Ganz oben rechts.«

»Wen denn?«, frage ich.

Twill zeigt wieder ihren Kräcker mit dem Vogel. »Einen Spotttölpel. Nur für einen kurzen Moment, wie er vorbeifliegt. Jedes Mal derselbe.«

»In Distrikt 8 denken wir, dass sie immer wieder dasselbe Bildmaterial zeigen, weil sie das, was da wirklich los ist, nicht zeigen können«, sagt Bonnie.

Ich schnaube ungläubig. »Und auf dieser Grundlage wollt ihr nach Distrikt 13? Wegen einer Aufnahme von einem Vogel? Glaubt ihr etwa, ihr findet dort eine neue Stadt mit Leuten, die darin flanieren? Und dass das für das Kapitol völlig in Ordnung ist?«

»Nein«, sagt Twill ernst. »Wir glauben, dass die Leute unter die Erde gezogen sind, als über der Erde alles zerstört war. Wir glauben, dass sie es geschafft haben zu überleben. Und wir glauben, das Kapitol lässt sie in Ruhe, weil vor den Dunklen Tagen die wichtigste Industrie in Distrikt 13 die Entwicklung von Atomwaffen war.«

»Sie haben Grafit gefördert«, sage ich. Doch dann halte ich inne, denn das ist eine Information, die ich aus dem Kapitol habe.

»Es gab dort ein paar kleine Minen, das stimmt. Aber nicht genug, um eine Bevölkerung dieser Größenordnung zu rechtfertigen. Das ist wohl das Einzige, was wir ganz sicher sagen können«, sagt Twill.

Mein Herz schlägt zu schnell. Und wenn sie nun recht haben? Könnte es stimmen? Gibt es vielleicht außer der Wildnis noch einen Ort, an den man fliehen könnte? Wo man in Sicherheit wäre? Wenn es in Distrikt 13 eine Gemeinschaft gibt, wäre es dann besser, dorthin zu gehen, wo ich vielleicht etwas bewirken könnte, anstatt hier auf den Tod zu warten? Andererseits … wenn es in Distrikt 13 Menschen mit mächtigen Waffen gibt …

»Warum haben sie uns dann nicht geholfen?«, sage ich zornig. »Wenn es stimmt, warum lassen sie uns so leben? Mit dem Hunger und den Morden und den Spielen?« Auf einmal hasse ich diese angebliche unterirdische Stadt in Distrikt 13 und die Leute, die dahocken und uns beim Sterben zusehen. Sie sind nicht besser als das Kapitol.

»Das wissen wir nicht«, flüstert Bonnie. »Im Moment klammern wir uns einfach an die Hoffnung, dass es sie gibt.«

Das katapultiert mich wieder in die Wirklichkeit. Es ist nur eine Illusion. Distrikt 13 gibt es nicht, weil das Kapitol es nie zulassen würde. Wahrscheinlich irren sie sich, was die Fernsehbilder angeht. Spotttölpel sind ungefähr so selten wie Steine. Und auch genauso hart im Nehmen. Wenn sie damals den Bombenangriff auf Distrikt 13 überlebt haben, geht es ihnen jetzt vermutlich besser denn je.