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Bonnie hat kein Zuhause. Ihre Familie ist tot. Sie kann unmöglich nach Distrikt 8 zurückkehren oder in einem anderen Distrikt Fuß fassen. Natürlich hat die Vorstellung von einem unabhängigen, blühenden Distrikt 13 für sie eine große Anziehungskraft. Ich bringe es nicht über mich, ihr zu sagen, dass sie einem Traum hinterherjagt, der so wenig greifbar ist wie ein Rauchfaden. Vielleicht können sie und Twill sich im Wald irgendwie ein Leben aufbauen. Ich glaube nicht daran, aber sie sind so bemitleidenswert, dass ich versuchen muss, ihnen zu helfen.

Zuerst gebe ich ihnen das gesamte Essen, das ich im Rucksack habe, vor allem Getreide und getrocknete Bohnen; damit können sie eine ganze Weile auskommen, wenn sie gut haushalten. Dann nehme ich Twill mit in den Wald und versuche ihr die Grundbegriffe der Jagd zu erklären. Sie besitzt eine Waffe, die bei Bedarf Sonnenlicht in tödliche Strahlen umwandeln kann und die also unendlich lange einsetzbar ist. Als Twill ihr erstes Eichhörnchen erlegt, ist das arme Tier ganz verkohlt, weil sein Körper mit voller Wucht getroffen wurde. Doch ich zeige ihr, wie man es häutet und ausnimmt. Mit ein bisschen Übung wird sie es schon lernen. Ich schnitze eine neue Krücke für Bonnie. Im Haus ziehe ich mein zweites Paar Socken aus und gebe es ihr, sie soll die Socken vorn in die Stiefel stecken und nachts anziehen. Schließlich bringe ich ihnen noch bei, wie man ein ordentliches Feuer macht.

Sie wollen Einzelheiten über die Situation in Distrikt 12 erfahren und ich erzähle ihnen von dem Leben unter Thread. Ich merke, dass das für sie wichtige Informationen sind, die sie den Leuten in Distrikt 13 überbringen wollen, und ich spiele mit, um ihnen nicht die Hoffnung zu nehmen. Doch als es am späten Nachmittag zu dämmern beginnt, habe ich keine Zeit mehr, sie weiter aufzubauen.

»Ich muss jetzt gehen«, sage ich.

Sie danken mir überschwänglich und umarmen mich.

Tränen laufen Bonnie über die Wangen. »Ich kann es gar nicht glauben, dass wir dich wirklich kennengelernt haben. Alle reden nur von dir, seit …«

»Ich weiß, ich weiß. Seit ich die Beeren herausgeholt habe«, sage ich müde.

Den Heimweg nehme ich kaum wahr, obwohl nasser Schnee fällt. Mir schwirrt der Kopf von den neuen Informationen über den Aufstand in Distrikt 8 und der unwahrscheinlichen und doch verlockenden Möglichkeit, dass es Distrikt 13 geben könnte.

Die Schilderungen von Bonnie und Twill haben eines bestätigt: Präsident Snow hat mich zum Narren gehalten. Selbst alle Küsse und Zärdichkeiten der Welt hätten die Bewegung, die in Distrikt 8 entstanden war, nicht aufhalten können. Ja, die Sache mit den Beeren war der entscheidende Funke gewesen, doch das Feuer konnte ich nicht eindämmen. Das muss er gewusst haben. Weshalb ist er dann zu mir nach Hause gekommen, warum hat er mir befohlen, die Menschen von meiner Liebe zu Peeta zu überzeugen? Offensichtlich war das eine List, mit der er mich ablenken und von weiteren aufrührerischen Aktionen in den Distrikten abhalten wollte. Und natürlich die Leute im Kapitol unterhalten. Die Hochzeit ist wahrscheinlich nur ein notwendiges Extra.

Ich bin fast am Zaun, als ein Spotttölpel sich auf einem Zweig niederlässt und mir etwas vorsingt. Bei seinem Anblick wird mir bewusst, dass ich gar nicht genau erfahren habe, weshalb der Vogel auf dem Kräcker war und was für eine Bedeutung er hat.

»Es bedeutet, dass wir auf deiner Seite sind«, hat Bonnie gesagt. Es gibt Menschen, die auf meiner Seite sind? Auf was für einer Seite? Bin ich unbeabsichtigt das Gesicht der Rebellion, auf die sie hoffen? Ist der Spotttölpel auf meiner Brosche zum Symbol des Widerstands geworden? Wenn dem so ist, geht es meiner Seite nicht sonderlich gut. Man braucht sich bloß anzuschauen, was in Distrikt 8 passiert ist.

Ich verstaue meine Waffen in dem hohlen Baumstamm in der Nähe meines alten Hauses im Saum und gehe auf den Zaun zu. Ein Knie habe ich schon am Boden, um auf die Weide zu kriechen, und ich bin mit meinen Gedanken immer noch so sehr bei den Ereignissen des Tages, dass ich erst durch den plötzlichen Schrei einer Eule zu mir komme.

In der Dämmerung sieht der Maschendrahtzaun so harmlos aus wie immer. Was meine Hand dennoch zurückzucken lässt, ist ein Geräusch wie das Summen in einem Baum mit mehreren Jägerwespennestern. Es verrät, dass der Zaun unter Strom steht.

11

Instinktiv mache ich einen Satz zurück und verstecke mich zwischen den Bäumen. Ich bedecke den Mund mit dem Handschuh, damit mein Atem nicht als weißer Hauch in der eisigen Luft zu sehen ist. Adrenalin strömt durch meinen Körper und fegt all die Bedenken des Tages aus meinen Gedanken, während ich mich auf die unmittelbare Gefahr vor mir konzentriere. Was soll das? Hat Thread den Zaun als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme eingeschaltet? Oder weiß er irgendwoher, dass ich ihm heute durchs Netz geschlüpft bin? Ist er entschlossen, mich außerhalb von Distrikt 12 auflaufen zu lassen, damit er mich festnehmen und einsperren kann? Will er mich auf den Platz zerren und an den Pranger stellen oder auspeitschen oder hängen lassen?

Ganz ruhig, befehle ich mir. Es ist nicht das erste Mal, dass der Zaun unter Strom steht, wenn ich wieder zurück in den Distrikt will. Im Lauf der Jahre ist das ein paarmal vorgekommen, aber da war immer Gale bei mir. Wir haben uns dann einfach einen gemütlichen Baum gesucht und dort oben gewartet, bis der Strom wieder abgeschaltet wurde, was früher oder später immer geschah. Wenn ich mich verspätete, lief Prim sogar jedes Mal schon zur Weide, um nachzusehen, ob der Zaun unter Strom stand, damit meine Mutter sich nicht unnötig sorgen musste.

Doch heute würde meine Familie nie darauf kommen, dass ich im Wald sein könnte. Ich habe sogar versucht, sie auf die falsche Fährte zu setzen. Wenn ich nicht auftauche, werden sie sich also auf jeden Fall Sorgen machen. Und in gewisser Weise mache ich mir selbst auch Sorgen, denn so sicher bin ich mir nicht, dass es nur Zufall ist - ausgerechnet an dem Tag, an dem ich in den Wald zurückkehre, wird der Strom eingeschaltet. Ich dachte, niemand hätte mich gesehen, als ich unter dem Zaun hindurchgeschlüpft bin, aber wer weiß? Spione gibt es immer. Irgendjemand hat verraten, dass Gale mich genau hier geküsst hat. Allerdings war das am helllichten Tag und damals war ich noch nicht so vorsichtig. Gibt es hier womöglich Überwachungskameras? Das habe ich mich schon einmal gefragt. Weiß Präsident Snow deshalb von dem Kuss? Es war dunkel, als ich mich davongestohlen habe, und ich hatte mir einen Schal um das Gesicht geschlungen. Doch die Liste derjenigen, die man verdächtigen könnte, verbotenerweise in den Wald zu gehen, ist vermutlich nicht lang.

Ich spähe durch die Bäume, am Zaun vorbei, auf die Weide. Ich sehe nichts als den nassen Schnee, der hier und dort von den Lichtern aus den Fenstern am Rand des Saums erhellt wird. Keine Friedenswächter in Sicht, keine Anzeichen dafür, dass ich gejagt werde. Ob Thread nun weiß, dass ich den Distrikt heute verlassen habe, oder nicht, mein Ziel muss dasselbe sein: ungesehen auf die andere Seite des Zauns zu gelangen und so zu tun, als wäre ich nie weg gewesen.

Jede Berührung mit dem Maschendrahtzaun oder mit dem Stacheldraht darüber hätte einen tödlichen Stromschlag zur Folge. Ich bezweifle, dass ich mich unter dem Zaun hindurchgraben kann, ohne entdeckt zu werden, und der Boden ist sowieso festgefroren. Mir bleibt nur eine Möglichkeit. Irgendwie muss ich versuchen hinüberzugelangen.

Ich gehe am Waldrand entlang und suche nach einem geeigneten Baum mit einem langen, hohen Ast. Nach etwa eineinhalb Kilometern komme ich zu einem alten Ahorn, bei dem es glücken könnte. Der Stamm ist jedoch zu dick und zu glatt, um hinaufzuklettern, und er hat keine niedrigen Äste. Ich klettere auf einen benachbarten Baum und mache einen gewagten Sprung auf den Ahorn, beinahe hätte ich an der glatten Rinde den Halt verloren. Doch ich schaffe es, mich festzuhalten, und schiebe mich auf einem Ast, der über den Zaun ragt, langsam vorwärts.