»Vielen Dank. Ich werde es ihm sagen. Bestimmt können wir jetzt alle besser schlafen, da der Sicherheitsdienst dieses Versäumnis behoben hat.«
Jetzt treibe ich es ein bisschen zu weit, das weiß ich, aber es verschafft mir eine gewisse Befriedigung, das zu sagen.
Die Frau reckt das Kinn. Für sie ist es ganz und gar nicht nach Plan gelaufen, aber sie hat keine weiteren Anweisungen. Sie nickt mir kurz zu und geht davon, den Mann im Schlepptau. Als meine Mutter die Tür geschlossen hat, lasse ich mich an den Tisch sinken.
»Was hast du?«, fragt Peeta und hält mich fest.
»Ach, ich hab mir den linken Fuß gestoßen. An der Ferse. Und mein Steißbein hatte auch einen schlechten Tag.« Er führt mich zu einem Schaukelstuhl und ich lasse mich auf das gepolsterte Kissen sinken.
Meine Mutter zieht mir die Schuhe aus. »Was ist passiert?«
»Ich bin ausgerutscht und hingefallen«, sage ich. Vier Augenpaare sehen mich ungläubig an. »Auf einer vereisten Stelle.« Wir wissen alle, dass das Haus wahrscheinlich verwanzt ist und wir es nicht riskieren können, offen miteinander zu sprechen. Nicht hier, nicht jetzt.
Meine Mutter zieht mir die Socke aus und betastet meine linke Ferse. Ich zucke zusammen. »Da könnte etwas gebrochen sein«, sagt sie. Sie untersucht den anderen Fuß. »Der hier scheint in Ordnung zu sein.« Sie stellt fest, dass ich am Steißbein eine schlimme Prellung habe.
Prim bekommt den Auftrag, meinen Schlafanzug und Bademantel zu holen. Als ich mich umgezogen habe, bereitet meine Mutter eine Schneepackung für meine linke Ferse vor und legt meinen Fuß auf einen niedrigen Hocker. So verspeise ich drei Teller Eintopf und einen halben Laib Brot, während die anderen am Tisch sitzen und essen. Ich starre ins Feuer, denke an Bonnie und Twill und hoffe, dass der schwere nasse Schnee meine Spuren verdeckt hat.
Prim kommt und setzt sich neben mir auf den Boden, sie lehnt den Kopf an mein Knie. Wir lutschen Pfefferminzbonbons und ich streiche ihr die weichen blonden Haare hinter das Ohr. »Wie war’s in der Schule?«, frage ich.
»Ganz gut. Wir haben etwas über Nebenerzeugnisse bei der Kohleherstellung gelernt«, sagt sie. Eine Weile starren wir ins Feuer. »Willst du deine Hochzeitskleider mal anprobieren?«
»Nicht heute Abend. Vielleicht morgen«, sage ich.
»Warte, bis ich nach Hause komme, ja?«, sagt sie.
»Klar.« Wenn sie mich nicht vorher verhaften.
Meine Mutter gibt mir eine Tasse Kamillentee mit einer Dosis Schlafsirup und sofort werden meine Lider schwer. Sie verbindet meinen schlimmen Fuß, und Peeta bietet sich an, mich ins Bett zu bringen. Erst versuche ich mich an seine Schulter zu lehnen, aber ich bin so wacklig auf den Beinen, dass er mich einfach hochhebt und nach oben trägt. Er deckt mich zu und wünscht mir eine gute Nacht, doch ich fasse seine Hand und halte ihn fest. Eine Nebenwirkung von Schlafsirup ist, dass man Hemmungen verliert, als hätte man Schnaps getrunken, und ich weiß, dass ich meine Zunge hüten muss. Doch ich möchte nicht, dass er geht. Ich möchte sogar, dass er zu mir ins Bett kommt, dass er heute Nacht da ist, wenn die Albträume zuschlagen. Aus irgendeinem Grund, den ich nicht ganz benennen kann, weiß ich, dass ich ihn nicht darum bitten darf.
»Geh noch nicht. Nicht bevor ich einschlafe«, sage ich.
Peeta setzt sich an den Bettrand und wärmt meine Hand mit seinen Händen. »Dachte schon fast, du hättest dich anders entschieden. Als du nicht zum Abendessen kamst.«
Ich bin benebelt, aber ich kann mir denken, was er meint. Als der Zaun eingeschaltet wurde und ich nicht auftauchte und die Friedenswächter warteten, da dachte er, ich wäre abgehauen, womöglich mit Gale.
»Nein, das hätte ich dir erzählt«, sage ich. Ich ziehe seine Hand zu mir heran und lege meine Wange an seinen Handrücken. Ich atme den leichten Duft nach Zimt und Dill von den Broten ein, die er heute gebacken hat. Ich würde ihm gern von Bonnie und Twill erzählen, von dem Aufstand und der Vision von Distrikt 13, aber das ist zu gefährlich, und ich merke, wie ich abdrifte. Ich bringe nur noch einen einzigen Satz heraus. »Bleib bei mir.«
Während der Schlafsirup mich mit seinen Ranken in den Schlaf hinabzieht, höre ich noch, wie Peeta etwas zurückflüstert, aber ich verstehe es nicht richtig.
Meine Mutter lässt mich bis zum Mittag schlafen, dann weckt sie mich, damit sie meine Ferse untersuchen kann. Sie verordnet mir eine Woche Bettruhe, und ich widerspreche nicht, weil es mir so miserabel geht. Nicht nur wegen der Ferse und des Steißbeins. Mein ganzer Körper schmerzt vor Erschöpfung. Also lasse ich es zu, dass meine Mutter mich verarztet, mir das Frühstück ans Bett und eine zusätzliche Decke bringt. Dann liege ich nur da, schaue aus dem Fenster in den Winterhimmel, grübele darüber nach, wie um alles in der Welt die Geschichte ausgehen wird. Ich denke viel an Bonnie und Twill und an den Stapel weißer Brautkleider unten; ich frage mich, ob Thread wohl herausfindet, wie ich zurückgekommen bin, und ob er mich verhaften wird. Es ist komisch, denn er könnte mich auch einfach so verhaften, wegen früherer Vergehen, aber vielleicht braucht er irgendetwas Unwiderlegbares, weil ich ja jetzt die Siegerin bin. Und ich überlege, ob Präsident Snow wohl in Kontakt mit Thread steht. Den alten Cray hat er wohl kaum je offiziell wahrgenommen, aber gibt er Thread jetzt, da ich so ein landesweites Problem bin, ganz genaue Anweisungen, was zu tun ist? Oder handelt Thread in eigener Regie? Wie dem auch sei, ganz bestimmt wären sie sich darin einig, dass man mich hier im Distrikt innerhalb der Grenzen des Zauns einsperren muss. Selbst wenn ich eine Möglichkeit fände zu fliehen - zum Beispiel ein Seil an dem hohen Ast des Ahorns befestigen und auf die andere Seite klettern -, so könnte ich meine Familie und meine Freunde nicht mitnehmen. Außerdem habe ich Gale sowieso versprochen, zu bleiben und zu kämpfen.
Wenn es in den nächsten Tagen an die Tür klopft, zucke ich jedes Mal zusammen. Aber keine Friedenswächter tauchen auf, um mich zu verhaften, und allmählich legt sich die Anspannung. Und dann beruhigt es mich, als Peeta beiläufig erwähnt, dass der Zaun teilweise nicht mehr unter Strom steht, weil Trupps damit beschäftigt sind, den Maschendraht am Boden zu schließen. Offenbar denkt Thread, ich sei irgendwie unter dem Zaun hindurchgeschlüpft, trotz des lebensgefährlichen Stroms. So hat der Distrikt eine Verschnaufpause, und die Friedenswächter haben einmal etwas anderes zu tun, als Menschen zu quälen.
Peeta kommt jeden Tag vorbei, er bringt mir Käsebrötchen und hilft mir, an dem Familienbuch zu arbeiten. Es ist ein altes Stück aus Pergament und Leder. Eine naturheilkundige Vorfahrin mütterlicherseits hat es vor vielen Jahren angelegt. Seite für Seite sind darin Pflanzen in Tuschezeichnungen dargestellt, dazu die Beschreibung ihres medizinischen Nutzens. Mein Vater hat einen Teil über essbare Pflanzen hinzugefügt, mein Ratgeber, mit dem ich uns nach seinem Tod das Überleben gesichert habe. Ich wollte schon lange mein eigenes Wissen in dem Buch festhalten. Alles, was ich aus Erfahrung oder von Gale gelernt habe, und die Informationen, die ich beim Training für die Spiele aufgeschnappt habe. Ich habe es nicht getan, weil ich keine Künstlerin bin und die Bilder ganz genau gezeichnet sein müssen. Und an dieser Stelle kommt Peeta ins Spiel. Manche der Pflanzen kennt er schon, von anderen haben wir getrocknete Vorlagen, und wieder andere muss ich ihm beschreiben. Er fertigt Skizzen auf Schmierpapier an, bis ich zufrieden bin, dann darf er sie in das Buch übertragen. Anschließend schreibe ich sorgfältig alles auf, was ich über die jeweilige Pflanze weiß.
Es ist eine stille Arbeit, die meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt und mich von den vielen Problemen ablenkt. Ich schaue gern seinen Händen zu, während er arbeitet, wie er eine weiße Seite mit ein paar Tuschestrichen zum Blühen bringt, wie er dem Buch, das bisher nur schwarz und gelblich war, Farbe verleiht. Wenn er sich konzentriert, nimmt sein Gesicht einen ganz bestimmten Ausdruck an. Sein sonst so gelassener Blick wird intensiv und fern, als wäre eine ganze Welt in ihm verborgen. Diesen Ausdruck habe ich schon öfter aufblitzen sehen: in der Arena oder wenn er zu einer Menschenmenge spricht oder als er in Distrikt 11 die Gewehre der Friedenswächter von mir wegschob. Ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll. Und ich kann kaum den Blick von seinen Wimpern wenden, die normalerweise nicht so auffallen, weil sie ganz hell sind. Doch von Nahem, wenn das Sonnenlicht ins Zimmer fällt, sind sie hellgolden und so lang, dass ich mich frage, wieso sie sich nicht verheddern, wenn er blinzelt.