Eines Nachmittags, als Peeta gerade eine Blüte schraffiert, schaut er so plötzlich auf, dass ich zusammenfahre, als hätte er mich dabei ertappt, wie ich ihn heimlich beobachte, was ich auf seltsame Weise vielleicht auch getan habe. Doch er sagt nur: »Ich glaube, das ist das erste Mal, dass wir etwas Normales zusammen machen.«
»Ja«, sage ich. Unsere ganze Beziehung ist durch die Spiele verdorben worden. »Normal« kam darin nicht vor. »Auch mal schön.«
Jeden Nachmittag trägt er mich nach unten, damit ich ein bisschen Abwechslung habe, und ich gehe allen damit auf die Nerven, dass ich den Fernseher einschalte. Normalerweise sehen wir nur fern, wenn es vorgeschrieben ist, weil die Mischung aus Propaganda und Darstellungen der Macht des Kapitols - zum Beispiel Ausschnitte von vierundsiebzig Jahren Hungerspielen - so abscheulich ist. Aber jetzt halte ich nach etwas Besonderem Ausschau. Nach dem Spotttölpel, auf den Bonnie und Twill all ihre Hoffnungen gründen. Mir ist klar, dass es wahrscheinlich idiotisch ist, aber dann möchte ich es auch widerlegen können. Und die Vorstellung von einem blühenden Distrikt 13 für immer aus meinen Gedanken verbannen.
Den ersten Hinweis entdecke ich in einem Bericht über die Dunklen Tage. Man sieht die schwelenden Überreste des Justizgebäudes in Distrikt 13, und ich erhasche so eben noch die schwarz-weiße Unterseite vom Flügel eines Spotttölpels, der oben rechts durch das Bild fliegt. Das ist aber noch kein Beweis. Es ist nur eine alte Aufnahme, die zu einer alten Geschichte gehört.
Ein paar Tage später jedoch fällt mir etwas anderes auf. Der Nachrichtensprecher liest eine Meldung über Grafitknappheit, welche sich auf die Produktion in Distrikt 3 auswirke. Es folgt ein Bericht, angeblich der Originalfilm einer Reporterin, die, in einen Schutzanzug gehüllt, vor den Ruinen des Justizgebäudes in Distrikt 13 steht. Durch ihre Maske hindurch berichtet sie, eine Untersuchung habe heute leider ergeben, dass die Minen in Distrikt 13 immer noch zu giftig seien, um sich ihnen zu nähern. Ende des Beitrags. Doch kurz vor dem Schnitt zurück zu dem Nachrichtensprecher sehe ich denselben Flügel desselben Spotttölpels aufblitzen, unverkennbar.
Die Reporterin wurde einfach in das alte Bildmaterial hineinmontiert. Sie ist überhaupt nicht in Distrikt 13. Und das wirft die Frage auf: Was ist dort?
12
Von da an fällt es mir schwerer, ruhig im Bett liegen zu bleiben. Ich will etwas tun, will mehr über Distrikt 13 herausfinden oder dabei helfen, das Kapitol zu stürzen. Stattdessen sitze ich da, stopfe Käsebrötchen in mich hinein und schaue Peeta beim Zeichnen zu. Hin und wieder kommt Haymitch vorbei und bringt Neuigkeiten aus der Stadt, immer schlechte. Noch mehr Menschen, die bestraft werden oder vor Hunger umfallen.
Der Winter ist allmählich auf dem Rückzug, als mein Fuß wieder einsatzfähig ist. Meine Mutter verordnet mir Übungen und ich darf schon ein bisschen allein laufen. Eines Nachts nehme ich mir beim Schlafengehen fest vor, am nächsten Morgen in die Stadt zu gehen, doch als ich aufwache, grinsen mich Venia, Octavia und Flavius an.
»Überraschung!«, kreischen sie. »Wir sind früher gekommen!«
Nach dem Peitschenschlag hatte Haymitch ihren Besuch bei mir um einige Monate verschoben, damit die Wunde verheilen konnte. Ich hatte frühestens in drei Wochen mit ihnen gerechnet. Aber ich tue so, als freute ich mich darüber, dass endlich das Fotoshooting für die Hochzeit stattfindet. Meine Mutter hat alle Kleider aufgehängt, sie sind also einsatzbereit, aber ehrlich gesagt, habe ich bisher noch kein einziges anprobiert.
Nach dem üblichen Gezeter über mein desolates Außeres machen die drei sich sofort an die Arbeit. Ihr Augenmerk gilt vor allem meinem Gesicht, obwohl ich finde, dass meine Mutter es ganz gut hinbekommen hat. Nur einen blassrosa Streifen habe ich noch über dem Wangenknochen. Nicht alle wissen von dem Peitschenschlag, also erzähle ich ihnen, ich sei auf dem Eis ausgerutscht und hätte mir die Wange aufgeratscht. Da wird mir bewusst, dass ich dieselbe Ausrede für die Fußverletzung benutzt habe, wegen der mir die hohen Absätze Probleme bereiten werden. Aber Flavius, Octavia und Venia sind von Natur aus gutgläubig, ich bin also auf der sicheren Seite.
Da ich nicht mehrere Wochen, sondern nur einige Stunden lang ohne Körperbehaarung sein muss, benutzen sie kein Wachs, sondern den Rasierer. Trotzdem muss ich in eine Wanne mit irgendeinem Zeug steigen, aber wenigstens stinkt es nicht, und ehe ich michs versehe, sind schon meine Frisur und mein Make-up dran. Wie immer haben sich die drei lauter Neuigkeiten zu erzählen, die ich versuche auszublenden. Aber dann macht Octavia eine Bemerkung, die mich aufhorchen lässt. Sie habe für eine Party keine Garnelen bekommen können, sagt sie, eigentlich nur nebenbei, trotzdem verblüfft es mich.
»Wieso konntest du keine Garnelen bekommen? Gibt es die zu dieser Jahreszeit nicht?«, frage ich.
»Ach, Katniss, schon seit Wochen sind keine Meeresfrüchte zu haben!«, sagt Octavia. »Weil das Wetter in Distrikt 4 so schlecht ist, weißt du.«
Mir schwirrt der Kopf. Keine Meeresfrüchte. Seit Wochen. Aus Distrikt 4. Die kaum verhohlene Wut der Menge während der Tour der Sieger. Und auf einmal bin ich mir ganz sicher, dass es in Distrikt 4 einen Aufstand gegeben hat.
Beiläufig frage ich, welche Härten dieser Winter noch mit sich gebracht hat. Sie sind es nicht gewohnt, auf etwas zu verzichten, deshalb ist es für sie schon bemerkenswert, wenn einmal etwas nicht zu haben ist. Bis ich bereit zum Ankleiden bin, haben sie mir so viel von den Schwierigkeiten vorgejammert, bestimmte Sachen zu bekommen - von Krebsfleisch über Musikchips bis hin zu Bändern -, dass ich mir ausrechnen kann, welche Distrikte sich möglicherweise im Aufstand befinden. Meeresfrüchte aus Distrikt 4. Elektrogeräte aus Distrikt 3. Und natürlich Stoffe aus Distrikt 8. Der Gedanke an eine Rebellion von solchem Ausmaß lässt mich schaudern vor Angst und Erregung.
Ich würde gern noch mehr Fragen stellen, aber da kommt Cinna, umarmt mich und begutachtet mein Make-up. Sofort fällt sein Blick auf die Narbe. Ich habe das Gefühl, dass er mir die Glatteis-Geschichte nicht so ganz abkauft, aber er sagt nichts dazu. Er pudert mein Gesicht noch ein wenig nach, und das bisschen, was man von dem Striemen noch sehen kann, verschwindet.
Unten ist das Wohnzimmer ausgeräumt und für die Aufnahmen ausgeleuchtet worden. Effie gefällt sich darin, alle herumzukommandieren und darauf zu achten, dass wir im Zeitplan bleiben. Das ist wohl auch gut so, denn es gibt sechs Brautkleider und auf jedes Kleid muss alles andere abgestimmt werden: Kopfbedeckung, Schuhe, Schmuck, Frisur, Make-up, Kulisse und Beleuchtung. Cremefarbene Spitze, rosa Rosen und Ringellocken. Elfenbeinfarbener Satin, Goldtattoos und grüne Blätter. Diamantenkleid, Juwelenschleier und Mondschein. Schwere weiße Seide, Ärmel vom Handgelenk bis zum Boden, Perlen. Sobald eine Aufnahme gelungen ist, bereiten wir schon die nächste vor. Ich komme mir vor wie ein Teig, der immer wieder geknetet und neu geformt wird. Meiner Mutter gelingt es, mir ein bisschen zu essen und ein paar Schluck Tee zu geben, während die anderen sich an mir zu schaffen machen, doch als alles erledigt ist, bin ich trotzdem ausgehungert und erschöpft. Ich hoffe, jetzt ein wenig Zeit mit Cinna verbringen zu können, aber Effie scheucht alle zur Tür hinaus, und ich muss mich mit dem Versprechen zu telefonieren begnügen.