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Es ist Abend geworden, und von all den verrückten Schuhen tut mir der Fuß weh, also verwerfe ich die Idee, in die Stadt zu gehen. Stattdessen begebe ich mich nach oben, entferne die Make-up-Schichten und wasche Festiger und Farbe aus den Haaren, dann gehe ich wieder nach unten, um die Haare am Feuer trocknen zu lassen. Prim, die rechtzeitig von der Schule nach Hause gekommen ist, um die letzten beiden Kleider zu sehen, plaudert darüber mit meiner Mutter. Sie scheinen beide richtig zufrieden mit dem Fotoshooting zu sein. Als ich ins Bett falle, wird mir klar, dass sie glauben, mir könne jetzt nichts mehr passieren. Sie glauben, das Kapitol sieht mir mein Verhalten bei Gales Auspeitschung nach, denn für jemanden, der sowieso umgebracht werden soll, würde ja niemand so einen Aufwand treiben. Genau.

In meinem Albtraum trage ich das seidene Brautkleid, aber es ist zerrissen und matschverschmiert. Ich renne durch den Wald und dabei verfangen sich die langen Ärmel immer wieder in Dornen und Zweigen. Das Rudel der mutierten Tribute kommt immer näher, bis sie mich mit ihrem heißen Atem und ihren triefenden Lefzen überwältigen und ich schreiend erwache.

Weil es schon fast Morgen ist, versuche ich erst gar nicht, wieder einzuschlafen. Außerdem muss ich heute wirklich hier raus und mit jemandem reden. Gale wird im Bergwerk sein, unerreichbar. Aber ich muss mit Haymitch oder Peeta oder irgendjemandem die Last all dessen teilen, was ich seit dem Tag am See erlebt habe. Gesetzlose auf der Flucht, Zäune unter Strom, ein unabhängiger Distrikt 13, Lieferschwierigkeiten im Kapitol. Alles.

Ich frühstücke mit meiner Mutter und Prim und gehe dann hinaus auf der Suche nach jemandem, dem ich mich anvertrauen kann. Draußen ist es warm, eine Hoffnung auf Frühling liegt in der Luft. Frühling wäre bestimmt eine gute Zeit für einen Aufstand. Wenn der Winter überstanden ist, fühlen die Menschen sich nicht mehr so schutzlos. Peeta ist nicht zu Hause. Wahrscheinlich ist er bereits in der Stadt. Aber Haymitch steht zu meiner Überraschung um diese Zeit schon in der Küche. Ohne anzuklopfen, gehe ich hinein. Ich höre Hazelle im ersten Stock, sie wischt den Boden in dem jetzt blitzsauberen Haus. Haymitch ist nicht volltrunken, aber allzu nüchtern wirkt er auch nicht gerade. Die Gerüchte, dass Ripper ihre Geschäfte wieder aufgenommen hat, scheinen zu stimmen. Gerade denke ich, dass Haymitch sich lieber ins Bett legen sollte, als er einen Gang in die Stadt vorschlägt.

Haymitch und ich haben gelernt, in Stichworten miteinander zu sprechen. In wenigen Minuten bringe ich ihn auf den neuesten Stand und erfahre, dass es auch in den Distrikten 7 und 11 Aufstände gibt. Wenn ich mit meinen Annahmen richtig liege, hat fast die Hälfte der Distrikte zumindest versucht zu rebellieren.

»Meinst du immer noch, dass es hier nicht klappen würde?«, frage ich.

»Jetzt noch nicht. Die anderen Distrikte sind viel größer. Selbst wenn sich da die Hälfte der Leute in ihren Häusern verkriecht, haben die Rebellen eine Chance. Hier in 12 müssen schon alle mitmachen, sonst ist es zwecklos«, sagt er.

Daran habe ich noch nicht gedacht. Dass wir einfach nicht genug Leute sind. »Aber vielleicht irgendwann?«, beharre ich.

»Vielleicht. Aber wir sind klein, wir sind schwach, und wir entwickeln keine Atomwaffen«, sagt Haymitch mit leisem Sarkasmus. Meine Geschichte über Distrikt 13 hat keinen riesigen Eindruck auf ihn gemacht.

»Was glaubst du, was sie tun werden, Haymitch? Mit den aufständischen Distrikten?«, frage ich.

»Tja, du hast ja gehört, was sie in 8 getan haben. Du hast gesehen, was sie hier getan haben, und das ganz ohne Provokation«, sagt Haymitch. »Falls die Sache wirklich aus dem Ruder läuft, dann hätten sie bestimmt kein Problem damit, noch einen Distrikt zu vernichten, wie sie es mit 13 gemacht haben. Als abschreckendes Beispiel, verstehst du?«

»Dann glaubst du also, 13 ist wirklich zerstört worden? Aber Bonnie und Twill hatten doch recht mit der Aufnahme von dem Spotttölpel«, sage ich.

»Schon, aber was beweist das? Eigentlich gar nichts. Es könnte jede Menge Gründe dafür geben, dass sie altes Filmmaterial verwenden. Wahrscheinlich sieht es beeindruckender aus.

Und es ist auch viel einfacher, oder? Nur ein paar Knöpfe im Schneideraum drücken, anstatt den langen Flug dorthin zu machen und zu drehen«, sagt er. »Dass Distrikt 13 sich irgendwie wieder aufgerappelt hat und dass das Kapitol dabei wegschaut, klingt wie eins von diesen Gerüchten, an die sich Verzweifelte gern klammern.«

»Ich weiß. War nur so eine Hoffnung«, sage ich.

»Genau. Weil du verzweifelt bist«, sagt Haymitch.

Ich widerspreche nicht, denn natürlich hat er recht.

Prim kommt von der Schule nach Hause und sprudelt nur so über vor Aufregung. Die Lehrer in der Schule haben gesagt, dass es heute Abend Pflichtfernsehen gibt. »Bestimmt deine Fotoaufnahmen!«

»Das kann nicht sein, Prim. Die haben sie doch erst gestern gemacht«, erwidere ich.

»Das hat aber jemand gehört«, sagt sie.

Ich hoffe, dass sie sich irrt. Ich hatte noch keine Zeit, Gale darauf vorzubereiten. Seit der Auspeitschung sehe ich ihn nur, wenn er zu meiner Mutter kommt, damit sie nachschaut, wie seine Wunden verheilen. Häufig muss er sieben Tage die Woche im Bergwerk arbeiten. Wenn ich ihn einmal zurück in die Stadt begleitet habe und wir ein paar Minuten für uns hatten, habe ich herausgehört, dass die beginnenden Unruhen in Distrikt 12 durch Threads hartes Durchgreifen unterdrückt worden sind. Gale weiß, dass ich nicht mehr vorhabe zu fliehen. Aber er wird auch wissen, dass ich, wenn wir in 12 keinen Aufstand machen, Peetas Frau werden muss. Wie wird er es aufnehmen, wenn er mich im Fernsehen sieht, wie ich in prächtigen Brautkleidern posiere?

Als wir uns um halb acht vor dem Fernseher versammeln, stelle ich fest, dass Prim recht hat. Da ist tatsächlich Caesar Flickerman vor einer Menschenmenge am Trainingscenter und erzählt dem dankbaren Publikum von meiner bevorstehenden Hochzeit. Er präsentiert Cinna, der bei den Spielen wegen seiner Kostüme für mich über Nacht zum Star wurde, und nach einer Minute freundlichem Geplänkel wird unsere Aufmerksamkeit auf eine riesige Leinwand gelenkt.

Jetzt verstehe ich, wie sie es geschafft haben, mich gestern zu fotografieren und heute bereits die Sondersendung zu bringen. Ursprünglich hatte Cinna zwei Dutzend Brautkleider entworfen. Seitdem ist die Auswahl der Entwürfe immer kleiner geworden, die Kleider wurden geschneidert und die Accessoires ausgewählt. Anscheinend konnten die Leute im Kapitol in jedem Stadium über ihre Favoriten abstimmen. Als abschließender Höhepunkt werden Aufnahmen von mir in den endgültigen sechs Kleidern präsentiert, die sich garantiert im Handumdrehen in die Sendung einfügen ließen. Jede Aufnahme wird von der Menge bejubelt. Die Zuschauer kreischen und juchzen, wenn ihre Lieblingskleider gezeigt werden, andere Kleider buhen sie aus. Da die Leute abgestimmt und vermutlich auch Wetten abgeschlossen haben, sind sie an meinem Brautkleid hochinteressiert. Es ist ein absurdes Spektakel, wenn ich bedenke, dass ich mir noch nicht mal die Mühe gemacht habe, ein Kleid anzuprobieren, ehe die Kameras auftauchten. Caesar verkündet, dass man seine Stimme bis morgen zwölf Uhr mittags abgeben kann.

»Sorgen wir dafür, dass Katniss Everdeen mit Stil heiratet!«, brüllt er in die Menge. Ich will den Fernseher schon ausschal ten, aber da sagt Caesar, wir sollen dranbleiben für das nächste große Ereignis des Abends. »Genau, in diesem Jahr jähren sich die Hungerspiele zum fünfundsiebzigsten Mal, und das heißt, das dritte Jubel-Jubiläum steht bevor!«

»Was soll das?«, fragt Prim. »Es sind doch noch Monate bis dahin.«

Wir schauen zu unserer Mutter, deren Blick ernst und abwesend wirkt, als würde sie sich an etwas erinnern. »Wahrscheinlich wird die Karte verlesen.«

Die Nationalhymne ertönt, und als Präsident Snow die Bühne betritt, ist meine Kehle vor Ekel wie zugeschnürt. Ihm folgt ein Junge im weißen Anzug, der einen schlichten Holzkasten trägt. Die Hymne verklingt und Präsident Snow beginnt mit seiner Rede. Er erinnert uns an die Dunklen Tage, aus denen die Hungerspiele hervorgegangen sind. Als die Gesetze für die Spiele aufgestellt wurden, so sagt der Präsident, schrieben sie vor, dass alle fünfundzwanzig Jahre ein Jubel-Jubiläum gefeiert werden solle. Dann sollte es eine großartigere Version der Spiele geben, um die Erinnerung an jene aufzufrischen, die in den Aufständen der Distrikte getötet worden waren.