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»Ah, da ist sie ja. Fix und fertig. Hast du endlich eins und eins zusammengezählt, Süße? Hast du kapiert, dass du da nicht allein reingehst? Und jetzt kommst du, um mich … was zu fragen?«, sagt er.

Ich gebe keine Antwort. Das Fenster steht weit offen, und der Wind ist so schneidend, als wäre ich draußen.

»Der Junge hatte es leichter, das gebe ich zu. Er war schneller hier, als ich die Flasche öffnen konnte. Hat mich um eine weitere Chance gebeten, in die Arena zu gehen. Aber was willst du mir schon sagen?« Er ahmt meine Stimme nach. »Geh an seiner statt, Haymitch, denn wenn schon, dann soll lieber Peeta den Rest seines Lebens erleben als du?«

Ich beiße mir auf die Lippe, denn jetzt, da er es ausgesprochen hat, muss ich mir eingestehen, dass ich genau das will. Dass Peeta lebt, selbst wenn es Haymitchs Tod bedeutet. Nein, das will ich nicht. Er ist natürlich ein grässlicher Kerl, aber er gehört jetzt zur Familie. Wieso bin ich hergekommen?, denke ich. Was will ich hier überhaupt?

»Ich bin gekommen, weil ich einen Drink brauche«, sage ich.

Haymitch prustet los und knallt die Flasche vor mir auf den Tisch. Ich wische mit dem Ärmel darüber und trinke ein paar Schlucke, bis mir die Luft wegbleibt. Es dauert eine Weile, bis ich wieder zu Atem komme, und selbst dann noch läuft mir das Wasser aus Augen und Nase. Aber in meinem Innern brennt der Alkohol wie Feuer und das ist ein gutes Gefühl.

»Vielleicht solltest du gehen«, sage ich sachlich und ziehe mir einen Stuhl heran. »Du verabscheust das Leben doch sowieso.«

»Wie wahr«, sagt Haymitch. »Und da ich letztes Mal versucht habe, dir das Leben zu retten … da ist es doch meine Pflicht, diesmal dem Jungen zu helfen.«

»Noch ein guter Grund«, sage ich, putze mir die Nase und hebe wieder die Flasche.

»Peeta argumentiert, dass ich, da ich mich für dich entschieden hatte, jetzt ihm einen Gefallen schulde. Egal, welchen. Und er will die Chance, wieder in die Arena zu gehen und dich zu beschützen«, sagt Haymitch.

Ich wusste es. In dieser Hinsicht ist Peeta ziemlich berechenbar. Während ich mich in dem Keller auf dem Boden gewälzt und nur an mich gedacht habe, war er hier und hat - auch nur an mich gedacht. Das Wort Scham reicht nicht aus, um das zu beschreiben, was ich empfinde. »Und wenn du hundert Leben hättest, du würdest ihn immer noch nicht verdienen, weißt du das?«, sagt Haymitch.

»Jaja«, sage ich schroff. »Keine Frage, er ist der Beste von uns dreien. Und, was willst du jetzt machen?«

»Ich weiß nicht.« Haymitch seufzt. »Vielleicht mit dir in die Arena gehen, wenn ich kann. Es spielt keine Rolle, ob bei der Ernte mein Name gezogen wird. Er wird sich einfach freiwillig melden.«

Eine Weile sitzen wir schweigend da. »Es war schlimm für dich in der Arena, oder? Wo du doch alle kennst«, sage ich.

»Ach, ich glaub, wir können beruhigt annehmen, dass es überall unerträglich ist, wo ich bin.« Er macht eine Kopfbewegung zu der Flasche. »Kann ich die jetzt mal wiederhaben?«

»Nein«, sage ich und schlinge die Arme darum. Haymitch holt eine weitere Flasche unter dem Tisch hervor und öffnet sie. Doch mir wird klar, dass ich nicht nur zum Trinken gekommen bin. Da ist noch etwas, das ich von Haymitch will. »Also gut, ich weiß jetzt, worum ich dich bitten will«, sage ich. »Wenn Peeta und ich bei den Spielen mitmachen, dann versuchen wir diesmal, ihm das Leben zu retten.«

Irgendetwas flackert in seinen blutunterlaufenen Augen auf. Schmerz.

»Wie du schon gesagt hast, schlimm wird es so oder so. Und ganz egal, was Peeta will, diesmal ist er dran. Das sind wir ihm beide schuldig.« Meine Stimme nimmt einen flehenden Ton an. »Außerdem hasst mich das Kapitol so sehr, ich bin sowieso schon so gut wie tot. Er hat vielleicht noch eine Chance. Bitte, Haymitch. Sag, dass du mir hilfst.«

Mit gerunzelter Stirn schaut er auf seine Flasche, denkt über meine Worte nach. »Also gut«, sagt er schließlich.

»Danke«, sage ich. Jetzt müsste ich zu Peeta gehen, doch ich will nicht. In meinem Kopf dreht sich alles vom Alkohol, und ich bin so fertig - wer weiß, wozu er mich überreden könnte? Nein, jetzt muss ich nach Hause und meiner Mutter und Prim gegenübertreten.

Als ich die Stufen zu unserem Haus hinauftaumele, geht die Tür auf und Gale nimmt mich in die Arme. »Ich hatte unrecht. Wir hätten abhauen sollen, als du es gesagt hast«, flüstert er.

»Nein«, sage ich. Ich kann kaum geradeaus gucken, und immer wieder schwappt Schnaps aus meiner Flasche und läuft Gale hinten über die Jacke, aber das scheint ihm nichts auszumachen.

»Es ist nicht zu spät«, sagt er.

Über seine Schulter hinweg sehe ich meine Mutter und Prim in der Tür, die sich in den Armen halten. Wir laufen weg. Sie sterben. Und jetzt muss ich auch Peeta beschützen. Damit ist das Thema vom Tisch. »Doch, es ist zu spät.« Meine Knie geben nach und er hält mich. Als der Alkohol mein Denken überwältigt, höre ich die Glasflasche klirrend zu Boden fallen. Es erscheint mir passend, denn ganz offensichtlich habe ich nichts mehr im Griff.

Als ich wieder aufwache, schaffe ich es gerade noch zur Toilette, bevor mir der Schnaps wieder hochkommt. Er brennt genauso wie beim Runterschlucken und schmeckt doppelt so übel. Nachdem ich mich übergeben habe, zittere und schwitze ich, aber wenigstens ist jetzt der größte Teil von dem Zeug wieder draußen. Trotzdem ist so viel in meinem Blut gelandet, dass ich pochende Kopfschmerzen habe, einen ausgetrockneten Mund und ein heißes Gefühl im Magen.

Ich drehe die Dusche auf und stelle mich eine Minute unter den warmen Regen, bis ich merke, dass ich immer noch in Unterwäsche bin. Meine Mutter hat mir wohl nur die schmutzige Oberbekleidung ausgezogen und mich dann ins Bett gesteckt. Ich werfe die nasse Unterwäsche ins Waschbecken und kippe mir Shampoo auf den Kopf. Meine Hände brennen und da sehe ich die kleinen, gleichmäßigen Schnitte in der einen Hand und an der Seite der anderen. Ich erinnere mich dunkel daran, dass ich gestern Nacht eine Fensterscheibe eingeschlagen habe. Ich schrubbe mich von Kopf bis Fuß ab und halte nur inne, um mich mitten in der Dusche erneut zu übergeben. Es ist hauptsächlich Galle, die zusammen mit dem süß duftenden Schaum im Abfluss verschwindet.

Als ich endlich sauber bin, ziehe ich den Bademantel über und gehe wieder ins Bett, obwohl ich klatschnasse Haare habe. Ich krieche unter die Decke und denke, dass es sich so anfühlen muss, wenn man eine Vergiftung hat. Als ich Schritte auf der Treppe höre, kommt meine Panik von gestern Nacht zurück. Ich bin nicht dafür gewappnet, meine Mutter und Prim zu sehen. Ich muss mich zusammenreißen, um ruhig und zuversichtlich zu wirken, so wie beim Abschied am Tag der letzten Ernte. Ich muss stark sein. Mühsam setze ich mich auf, streiche mir die nassen Haare von den pochenden Schläfen und reiße mich zusammen. Sie erscheinen mit Tee und Toast und sorgenvollen Gesichtern in der Tür. Ich öffne den Mund zu einer witzigen Bemerkung und breche in Tränen aus.

So viel zum Thema Starksein.

Meine Mutter setzt sich auf den Bettrand und Prim schmiegt sich an mich, und sie halten mich, trösten mich leise, bis ich mich einigermaßen ausgeweint habe. Dann holt Prim ein Handtuch und trocknet mir die Haare ab, kämmt die Knoten heraus, während meine Mutter mir Tee und Toast aufdrängt. Sie ziehen mir einen warmen Schlafanzug an und legen mir noch mehr Decken aufs Bett und ich dämmere wieder ein.

Als ich aufwache, verrät mir das Licht, dass es spät am Nachmittag ist. Auf meinem Nachttisch steht ein Glas Wasser und ich stürze es durstig hinunter. Ich fühle mich immer noch wackelig im Magen und im Kopf, aber viel besser als vorher. Ich stehe auf, ziehe mich an und flechte die Haare zu einem Zopf. Bevor ich nach unten gehe, bleibe ich auf der Treppe stehen. Ich schäme mich ein wenig dafür, wie ich auf die Neuigkeit vom Jubel-Jubiläum reagiert habe. Meine ziellose Flucht, die Sauferei mit Haymitch, die Tränen. Unter den Umständen ist es wohl in Ordnung, dass ich mich einen Tag habe gehen lassen. Trotzdem bin ich froh, dass keine Kamera in der Nähe war.