Unten umarmen meine Mutter und Prim mich abermals, doch sie wirken nicht übertrieben bewegt. Ich weiß, dass sie sich beherrschen, um es mir leichter zu machen. Wenn ich Prim ins Gesicht sehe, kann ich mir kaum vorstellen, dass sie dasselbe schwache kleine Mädchen ist, das ich vor neun Monaten am Tag der Ernte zurückgelassen habe. Diese Tortur und all das, was danach kam - die Grausamkeiten im Distrikt, der Aufmarsch der Kranken, die sie jetzt häufig selbst behandelt, wenn meine Mutter alle Hände voll zu tun hat -, hat sie um Jahre altern lassen. Sie ist auch ganz schön gewachsen; wir sind jetzt fast gleich groß, aber das ist es nicht, was sie so viel älter erscheinen lässt.
Meine Mutter schöpft mir Brühe in einen Becher und ich bitte sie um einen zweiten Becher für Haymitch. Dann gehe ich über den Rasen zu seinem Haus. Er ist gerade erst aufgewacht und nimmt den Becher kommentarlos entgegen. Beinahe friedlich sitzen wir da, nippen unsere Brühe und schauen durch sein Wohnzimmerfenster zu, wie die Sonne untergeht. Im Stockwerk über uns höre ich jemanden herumlaufen und nehme an, dass es Hazelle ist, doch ein paar Minuten später kommt Peeta herunter. Mit einer endgültigen Geste wirft er einen Pappkarton mit leeren Schnapsflaschen auf den Tisch.
»So, das hätten wir«, sagt er.
Haymitch braucht seine gesamte Energie, um den Blick auf die leeren Flaschen zu richten, also übernehme ich das Reden. »Was hätten wir?«
»Ich hab den ganzen Schnaps weggekippt«, sagt Peeta.
Das scheint Haymitch aus seiner Starre zu reißen, ungläubig wühlt er in dem Karton. »Du hast was?«
»Ich hab alles weggekippt«, sagt Peeta.
»Er kauft sich doch einfach neuen«, sage ich.
»Das wird er nicht«, sagt Peeta. »Ich hab heute Morgen Ripper ausfindig gemacht und ihr gesagt, ich zeige sie an, sobald sie einem von euch beiden was verkauft. Sicherheitshalber hab ich ihr auch was gezahlt, aber ich glaube nicht, dass sie scharf darauf ist, wieder von den Friedenswächtern geschnappt zu werden.«
Haymitch holt mit seinem Messer aus, doch Peeta wehrt es so mühelos ab, dass es erbärmlich wirkt. Wut steigt in mir auf. »Was geht es dich an, was er macht?«
»Das geht mich sogar sehr viel an. Ganz gleich, wie es ausgeht, zwei von uns müssen in die Arena und der Dritte wird Mentor sein. Wir können uns in diesem Team keine Säufer leisten. Dich schon gar nicht, Katniss«, sagt Peeta zu mir.
»Was?«, stoße ich empört hervor. Es würde überzeugender klingen, wenn ich nicht immer noch so verkatert wäre. »Gestern Nacht war ich zum ersten Mal in meinem Leben betrunken.«
»Ja, und schau dir an, in was für einem Zustand du bist«, sagt Peeta.
Ich weiß nicht, was ich von meiner ersten Begegnung mit Peeta nach der Verkündung erwartet hatte. Ein paar Umarmungen und Küsse. Vielleicht ein wenig Trost. Nicht das hier. Ich wende mich an Haymitch. »Keine Angst, ich besorg dir schon was zu trinken.«
»Dann zeige ich euch beide an und ihr könnt am Pranger ausnüchtern«, sagt Peeta.
»Was soll das?«, fragt Haymitch.
»Zwei von uns werden aus dem Kapitol zurückkommen. Ein Mentor und ein Sieger«, sagt Peeta. »Effie schickt mir Aufnahmen aller lebenden Sieger. Wir werden uns ihre Spiele anschauen und alles Menschenmögliche darüber lernen, wie sie kämpfen. Wir werden an Gewicht zulegen und stark werden. Wir werden uns aufführen wie die Karrieros. Und einer von uns wird wieder gewinnen, ob es euch beiden passt oder nicht!« Er saust aus dem Zimmer und knallt die Haustür hinter sich zu.
Haymitch und ich zucken zusammen.
»Ich kann selbstgerechte Menschen nicht leiden«, sage ich.
»Wer redet hier von leiden können?«, sagt Haymitch und saugt den letzten Rest aus den leeren Flaschen.
»Wenn es nach ihm geht, sollen wir beide nach Hause zurückkehren, du und ich«, sage ich.
»Tja, dann ist er der Gelackmeierte«, sagt Haymitch.
Doch nach ein paar Tagen erklären wir uns einverstanden, die Karrieros zu spielen, denn das ist die beste Methode, auch Peeta einzustimmen. Jeden Abend schauen wir uns die alten Zusammenfassungen der vergangenen Spiele und ihre Sieger an. Mir wird bewusst, dass wir auf der Tour der Sieger keinen von ihnen kennengelernt haben, was mir im Nachhinein merkwürdig vorkommt. Als ich das erwähne, sagt Haymitch, Präsident Snow wollte auf keinen Fall zeigen, wie Peeta und ich - vor allem ich - uns mit anderen Siegern in möglicherweise aufständischen Distrikten verbünden. Sieger haben einen besonderen Status, und wenn sie meinen offenen Ungehorsam gegen das Kapitol unterstützt hätten, wäre das politisch gefährlich gewesen. Mir wird bewusst, dass einige unserer Gegner schon betagt sein könnten, was einerseits traurig ist, andererseits beruhigend. Peeta macht ausgiebig Notizen, Haymitch liefert Informationen über die Persönlichkeit der Sieger, und langsam lernen wir die Konkurrenz kennen.
Jeden Morgen machen wir Übungen, um unsere Körper zu trainieren. Wir laufen, heben Gewichte und dehnen unsere Muskeln. Nachmittags üben wir uns in Kampftechniken, im Messerwerfen und Ringen; ich bringe ihnen sogar bei, auf Bäume zu klettern. Offiziell sollen die Tribute nicht trainieren, aber niemand versucht uns davon abzuhalten. Selbst in den gewöhnlichen Jahren zeigt sich, dass die Tribute aus den Distrikten 1, 2 und 4 mit dem Speer und mit dem Schwert umgehen können. Dagegen ist das hier gar nichts.
Nach so vielen Jahren des schlechten Lebenswandels will Haymitchs Körper sich nicht erholen. Er hat immer noch erstaunliche Kräfte, aber wenn er nur ein kleines bisschen läuft, gerät er gleich außer Atem. Und man sollte doch meinen, dass jemand, der jede Nacht mit einem Messer schläft, in der Lage sein sollte, eine Hauswand damit zu treffen, aber seine Hände zittern so schlimm, dass es Wochen dauert, bis er wenigstens das zustande bringt.
Peeta und mir dagegen bekommt der neue Tagesablauf sehr gut. So habe ich etwas zu tun. So haben wir alle etwas zu tun, etwas anderes, als uns geschlagen zu geben. Meine Mutter stellt unsere Ernährung um, damit wir zunehmen. Prim behandelt unsere geschundenen Muskeln. Madge stibitzt für uns die Zeitungen, die das Kapitol ihrem Vater schickt. Bei den Prognosen, wer der Sieger der Sieger wird, gehören wir zu den Favoriten. Selbst Gale taucht sonntags auf, obwohl er weder Peeta noch Haymitch ins Herz geschlossen hat, und zeigt uns alles, was er über das Fallenstellen weiß. Für mich ist es merkwürdig, mit Peeta und Gale gleichzeitig zu reden, aber die beiden scheinen ihre Konkurrenz um mich beiseitelassen zu können.
Eines Abends, als ich Gale zurück in die Stadt begleite, gibt er sogar zu: »Zu dumm, dass es so schwer ist, ihn zu hassen.«
»Wem sagst du das«, antworte ich. »Wenn ich ihn in der Arena einfach hätte hassen können, hätten wir jetzt nicht so ein Chaos. Dann wäre er tot und ich eine glückliche kleine Siegerin, ganz allein.«
»Und wo wären wir dann, Katniss?«, fragt Gale.
Ich zögere, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ja, wo wäre ich mit meinem angeblichen Cousin, der nicht mein Cousin wäre, wenn es Peeta nicht gäbe? Hätte er mich trotzdem geküsst und hätte ich seinen Kuss erwidert, wenn ich frei gewesen wäre? Hätte ich mich ihm geöffnet, wenn ich mich durch Geld und Lebensmittel in Sicherheit gewiegt hätte, wenn ich an die Illusion von Unverwundbarkeit geglaubt hätte, wie man es als Sieger unter anderen Umständen tun könnte? Doch auch dann hätte die Ernte über uns, über unseren Kindern gelauert. Ganz gleich, was ich gewollt hätte …
»Auf der Jagd. Wie jeden Sonntag«, sage ich. Ich weiß, dass er die Frage nicht wörtlich gemeint hat, aber mehr als das kann ich nicht sagen, wenn ich ehrlich sein will. Gale weiß, dass ich ihn Peeta vorgezogen habe, als ich nicht weggelaufen bin. Ich sehe keinen Sinn darin, über das zu reden, was hätte sein können. Selbst wenn ich Peeta in der Arena getötet hätte, würde ich niemanden heiraten wollen. Ich habe mich nur verlobt, um Leben zu retten, und das ist nach hinten losgegangen.