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»Ob du mich wecken kannst, ohne dass ich mir eine Lungenentzündung hole«, sagt Haymitch und gibt Peeta das Messer. Er zieht sein dreckiges Hemd aus, sodass ein nicht minder dreckiges Unterhemd zum Vorschein kommt, und reibt sich mit einem trockenen Zipfel ab.

Peeta lächelt und spült Haymitchs Messer mit klarem Schnaps aus einer Flasche ab, die auf dem Boden steht. Er wischt das Messer am Hemd sauber und schneidet das Brot in Scheiben. Peeta versorgt uns alle mit frischen Backwaren. Ich jage. Er backt. Haymitch trinkt. Jeder von uns beschäftigt sich auf seine Weise, um die Gedanken an unsere gemeinsame Zeit als Mitstreiter in den Hungerspielen fernzuhalten. Erst als er Haymitch die Brotkante gereicht hat, sieht Peeta mich zum ersten Mal an. »Möchtest du auch ein Stück?«

»Nein, ich hab auf dem Hob gegessen«, sage ich. »Aber vielen Dank.« Meine Stimme klingt fremd, so förmlich. Wie immer, wenn ich mit Peeta spreche, seit die Kameras unsere glückliche Heimkehr gefilmt haben und wir in unser richtiges Leben zurückgekehrt sind.

»Keine Ursache«, erwidert er steif.

Haymitch wirft sein Hemd mitten in das Durcheinander. »Brrr! Ihr beide müsst euch aber noch ordentlich aufwärmen, bevor die Show losgeht.«

Da hat er natürlich recht. Das Publikum erwartet die beiden Turteltäubchen, die die Hungerspiele gewonnen haben. Nicht zwei Menschen, die einander kaum in die Augen sehen können. Aber ich sage nur: »Geh dich mal waschen, Haymitch.« Dann schwinge ich mich zum Fenster hinaus, springe nach unten und gehe über die Wiese nach Hause.

Der Schnee bleibt jetzt liegen und meine Füße hinterlassen eine Spur. Vor der Haustür befreie ich meine Schuhe von dem nassen Zeug. Meine Mutter hat Tag und Nacht geschuftet, damit alles schön ist für die Kameras, da will ich ihren glänzenden Fußboden nicht gleich wieder dreckig machen. Ich bin kaum im Haus, da kommt sie schon auf mich zu und fasst mich am Arm, als wollte sie mich aufhalten.

»Keine Sorge, ich ziehe sie hier aus«, sage ich und lasse die Schuhe auf der Fußmatte stehen.

Meine Mutter lacht ein eigenartiges, heiseres Lachen und nimmt mir die prall gefüllte Jagdtasche von der Schulter. »Es ist ja nur Schnee. Hast du einen schönen Spaziergang gemacht?«

»Spaziergang?« Sie weiß, dass ich die halbe Nacht im Wald verbracht habe. Da sehe ich den Mann, der hinter ihr in der Küchentür steht. Ein einziger Blick auf seinen maßgeschneiderten Anzug und sein chirurgisch perfektioniertes Gesicht verrät mir, dass er aus dem Kapitol kommt. Irgendetwas stimmt nicht. »Das war eher ein Schlittern. Es wird jetzt richtig glatt draußen.«

»Du hast Besuch«, sagt meine Mutter. Ihr Gesicht ist zu blass, und in ihrer Stimme höre ich die Angst, die sie zu verbergen sucht.

»Ich dachte, wir erwarten sie erst gegen Mittag.« Ich tue so, als ob ich nichts bemerke. »Ist Cinna schon da, um mir beim Umziehen zu helfen?«

»Nein, Katniss, es ist …«, setzt meine Mutter an.

»Bitte hier entlang, Miss Everdeen«, sagt der Mann. Er zeigt in Richtung Flur. Es ist merkwürdig, durch das eigene Haus geleitet zu werden, aber ich hüte mich, etwas dazu zu sagen.

Im Gehen lächele ich meine Mutter über die Schulter hinweg zuversichtlich an. »Bestimmt noch ein paar Anweisungen für die Tour der Sieger.« Sie haben mir schon alle möglichen Informationen über die Reiseroute und die Etikette in den unterschiedlichen Distrikten zukommen lassen. Doch als ich auf die Tür zum Arbeitszimmer zugehe, eine Tür, die ich bis zu diesem Moment noch nie geschlossen gesehen habe, fangen meine Gedanken an zu rasen. Wer ist da drin? Was wollen sie von mir? Warum ist meine Mutter so blass?

»Gehen Sie nur hinein«, sagt der Mann vom Kapitol, der mir durch den Flur gefolgt ist.

Ich drehe den Messingknauf herum und trete ein. Meine Nase nimmt Rosen wahr und gleichzeitig Blut. Ein kleiner weißhaariger Mann, der mir irgendwie bekannt vorkommt, steht mit dem Rücken zu mir und liest in einem Buch. Er hebt einen Finger, als wollte er sagen: Einen Moment noch. Dann dreht er sich um und mein Herz setzt einen Schlag aus.

Ich schaue in die Schlangenaugen von Präsident Snow.

2

Für mich gehört Präsident Snow vor Marmorsäulen und riesige Flaggen. Es ist verstörend, ihn hier im Zimmer inmitten alltäglicher Dinge zu sehen. Als würde man den Deckel von einem Topf nehmen und darin statt Suppe eine Viper mit aufgerissenem Maul vorfinden.

Was kann er hier wollen? Meine Gedanken rasen zurück zu den Eröffnungstagen vergangener Siegertouren. Ich erinnere mich daran, die siegreichen Tribute zusammen mit ihren Mentoren und Stylisten gesehen zu haben. Auch einige hohe Repräsentanten der Regierung tauchten gelegentlich auf. Doch Präsident Snow habe ich noch nie gesehen. Er ist bei Feierlichkeiten im Kapitol anwesend. Und das war’s.

Wenn er die ganze Reise von seiner Stadt hierher gemacht hat, kann das nur eins bedeuten. Ich stecke in ernsten Schwierigkeiten. Und mit mir auch meine Familie. Es schaudert mich bei dem Gedanken, wie nah meine Mutter und meine Schwester diesem Mann sind, der mich verabscheut. Der mich immer verabscheuen wird. Denn ich habe ihn bei seinen sadistischen Hungerspielen ausgetrickst, habe das Kapitol lächerlich gemacht und damit seine Macht untergraben.

Dabei habe ich nichts getan, als Peeta und mir selbst das Leben zu retten. Dass das gleichzeitig ein rebellischer Akt war, war reiner Zufall. Doch wenn das Kapitol verfügt, dass nur ein Tribut gewinnen kann, und jemand so dreist ist, diese Regel infrage zu stellen, ist das wohl an sich schon eine Rebellion. Ich konnte mich nur verteidigen, indem ich so tat, als hätte meine leidenschaftliche Liebe zu Peeta mir den Verstand geraubt. Deshalb durften wir beide überleben. Und zu Siegern gekürt werden. Durften nach Hause zurückkehren und feiern und in die Kameras winken und wurden in Ruhe gelassen. Bis jetzt.

Vielleicht ist es das neue Haus oder der Schreck, ihn zu sehen, oder dass wir beide wissen, er könnte mich von jetzt auf gleich töten lassen; jedenfalls komme ich mir so vor, als wäre ich der Eindringling. Als wäre das hier sein Zuhause und ich der ungebetene Gast. Deshalb begrüße ich ihn auch nicht und biete ihm keinen Platz an. Ich sage kein Wort. Im Grunde behandele ich ihn so, als wäre er wirklich eine Schlange, eine Giftschlange. Reglos stehe ich da, den Blick auf ihn geheftet, und schmiede Fluchtpläne.

»Ich glaube, wir können die ganze Situation sehr vereinfachen, wenn wir uns darauf einigen, einander nicht zu belügen«, sagt er. »Was denkst du?«

Ich denke, dass meine Zunge festgefroren ist und dass ich unmöglich sprechen kann, aber ich überrasche mich selbst und antworte mit fester Stimme: »Ja, ich glaube, damit würden wir Zeit sparen.«

Präsident Snow lächelt und zum ersten Mal fallen mir seine Lippen auf. Ich hatte Schlangenlippen erwartet, also gar keine. Aber seine Lippen sind außergewöhnlich voll, die Haut spannt. Ich frage mich, ob er sich den Mund hat operieren lassen, damit er attraktiver aussieht. Wenn ja, war es Zeit-Verschwendung, denn er ist nicht die Spur attraktiv. »Meine Berater hatten Sorge, du könntest Schwierigkeiten machen, aber du hast nicht vor, Schwierigkeiten zu machen, oder?«, fragt er.

»Nein«, sage ich.

»Das habe ich ihnen auch gesagt. Ich habe gesagt, ein Mädchen, das so viel auf sich nimmt, um sein Leben zu retten, wird kein Interesse daran haben, es leichtfertig wegzuwerfen. Und sie wird auch an ihre Familie denken. An die Mutter, die Schwester und all die … Cousins.« An der Art, wie er das Wort »Cousins« dehnt, merke ich, er weiß, dass Gale und ich nicht richtig verwandt sind.

Jetzt liegen die Tatsachen also auf dem Tisch. Vielleicht ist es besser so. Mit unbestimmten Drohungen komme ich nicht gut zurecht. Ich will lieber wissen, woran ich bin.