»Das ist alles, Haymitch. Lass uns umkehren«, sagt Maysilee.
»Nein, ich bleibe hier«, erwidert er.
»Gut. Nur noch fünf von uns sind übrig. Dann können wir auch jetzt und hier Lebewohl sagen«, sagt sie. »Ich möchte nicht, dass am Ende bloß noch wir beide übrig sind.«
»Okay«, willigt er ein. Mehr nicht. Er hält ihr nicht die Hand hin oder sieht sie an. Und so geht sie fort.
Haymitch folgt dem Rand der Klippe, als grübelte er über etwas. Unter seinem Fuß löst sich ein kleiner Stein, der in den Abgrund fällt, augenscheinlich für immer verschwunden. Aber eine Minute später, Haymitch hat sich inzwischen hingesetzt, um auszuruhen, wird der Stein plötzlich zurückgeschleudert und landet neben ihm. Verdutzt starrt Haymitch den Stein an, dann wird seine Miene seltsam angespannt. Er wirft einen faustgroßen Stein über die Klippe und wartet. Als auch dieser Stein zurückgeflogen kommt und wieder genau in seiner Hand landet, lacht er los.
In diesem Augenblick hört man Maysilee schreien. Das Bündnis ist Vergangenheit, sie hat es gebrochen, deshalb könnte ihm niemand einen Vorwurf machen, wenn er sich nicht um sie kümmern würde. Trotzdem rennt Haymitch los. Er kommt gerade noch rechtzeitig, um mit anzusehen, wie der letzte aus einer Schar bonbonrosafarbener Vögel mit seinem langen, dünnen Schnabel ihren Hals durchbohrt. Während sie stirbt, hält Haymitch ihre Hand, und ich muss die ganze Zeit an Rue denken und dass auch ich zu spät gekommen bin, um sie zu retten.
Später an diesem Tag wird noch ein Tribut im Kampf getötet und ein dritter von einem Rudel dieser flauschigen Eichhörnchen aufgefressen, sodass nur noch Haymitch und ein Mädchen aus Distrikt 1 um den Sieg wetteifern. Sie ist größer als Haymitch und genauso schnell, und als es zu dem unvermeidlichen Kampf kommt, ist er blutig und schrecklich, und beide haben bereits Verletzungen erlitten, die tödlich sein könnten. Da steht Haymitch plötzlich ohne Waffe da. Er taumelt durch den schönen Wald, drückt die Eingeweide zurück in den Bauch, während das Mädchen hinter ihm herstolpert, in der Hand die Axt, mit der sie ihm den Todesstoß versetzen will. Auf kürzestem Weg steuert Haymitch auf seine Klippe zu und ist eben an der Felskante angekommen, als das Mädchen die Axt schleudert. In diesem Augenblick lässt Haymitch sich fallen und die Axt fliegt über ihn hinweg in den Abgrund. Jetzt, da sie ebenfalls unbewaffnet ist, steht das Mädchen nur da und versucht das Blut zu stillen, das aus ihrer leeren Augenhöhle rinnt. Vielleicht denkt sie, sie könne Haymitch, der sich auf dem Boden windet, überleben. Aber im Gegensatz zu ihm kennt sie das Geheimnis des Abgrunds nicht, und als die Axt plötzlich wieder über die Kante geflogen kommt, gräbt sie sich in den Schädel des Mädchens. Die Kanone knallt, die Leiche wird fortgeschafft, die Fanfaren verkünden Haymitchs Sieg.
Peeta schaltet das Band ab, wir bleiben eine Zeit lang schweigend sitzen.
Endlich sagt Peeta: »Dieses Kraftfeld unterhalb der Klippe erinnert mich an das Kraftfeld rings um das Dach des Trainingscenters. Das schleudert einen auch zurück, wenn man versucht, hinunterzuspringen und sich umzubringen. Haymitch hat einen Weg gefunden, es als Waffe einzusetzen.«
»Und nicht nur gegen die anderen Tribute, auch gegen das Kapitol«, sage ich. »Damit hatten sie bestimmt nicht gerechnet. Es war nicht als Teil der Arena gedacht. Sie haben nie geplant, dass irgendjemand das Kraftfeld als Waffe einsetzen sollte. Als Haymitch es dennoch schaffte, standen sie ganz schön dumm da. Es hat bestimmt eine Weile gedauert, bis sie sich eine passende Story dazu ausgedacht haben. Wahrscheinlich habe ich es deshalb auch nicht im Fernsehen gesehen. Das ist ja fast so schlimm wie wir mit den Beeren!«
Ich pruste los, zum ersten Mal seit Monaten kann ich richtig lachen. Peeta schüttelt nur den Kopf, als hätte ich den Verstand verloren - vielleicht ist es auch ein bisschen so.
»Fast, aber nicht ganz«, sagt Haymitch hinter uns. Ich fahre herum und befürchte, er könne verärgert sein, weil wir sein Band angesehen haben, aber er grinst nur und nimmt einen tiefen Schluck aus einer Weinflasche. So viel zum Thema nüchtern bleiben. Wahrscheinlich müsste ich jetzt wütend sein, weil er wieder trinkt, doch mich beschäftigt etwas anderes.
In den zurückliegenden Wochen habe ich mich nur darum gekümmert zu erfahren, wer meine zukünftigen Konkurrenten sind, und keinen Gedanken daran verschwendet, wer meine Teamkameraden sind. Jetzt aber macht sich eine neue Art von Zuversicht in mir breit, weil ich glaube, dass ich endlich über Haymitch Bescheid weiß. Und ich weiß allmählich auch, wer ich bin. Und zwei Leute, die dem Kapitol so viel Ärger eingebrockt haben, werden bestimmt einen Weg finden, Peeta lebend wieder nach Hause zu bringen.
15
Ich habe ja schon einige Vorbereitungssitzungen mit Flavius, Venia und Octavia hinter mir, weshalb das für mich eigentlich alles Routine sein müsste, die ich nur irgendwie überstehen muss. Aber die emotionale Tortur, die mich diesmal erwartet, habe ich nicht vorausgesehen. Mindestens zweimal im Verlauf der Vorbereitung bricht jeder von ihnen in Tränen aus und Octavia wimmert den ganzen Vormittag über vor sich hin. Offenbar haben sie mich tatsächlich ins Herz geschlossen, und die Vorstellung, dass ich noch einmal in die Arena zurückmuss, macht sie völlig fertig. Dass sie zusammen mit mir auch die Zutrittsberechtigung zu all den großen gesellschaftlichen Anlässen - insbesondere meiner Hochzeit - verlieren werden, macht es vollends unerträglich. Der Gedanke, für einen anderen stark zu sein, ist ihnen noch nie gekommen, und daher bin jetzt plötzlich ich es, die sie trösten muss. Das nervt ein bisschen, schließlich soll ich mich abschlachten lassen, nicht sie.
Aber es ist doch interessant, was Peeta über den Diener im Zug gesagt hat - er sei nicht glücklich darüber, dass die Sieger noch mal kämpfen müssen. Und es gebe auch Leute im Kapitol, die das nicht gut fänden. Meiner Meinung nach wird all das zwar vergessen sein, sobald der Gong ertönt und die Spiele beginnen, aber dass die Leute im Kapitol überhaupt etwas für uns empfinden, ist schon eine kleine Offenbarung. Mit anzusehen, wie Jahr für Jahr aufs Neue junge Menschen getötet werden, bereitet ihnen anscheinend keinerlei Problem. Aber über die Sieger und besonders über die, die seit ewigen Zeiten Berühmtheiten sind, wissen sie vielleicht zu viel, um zu vergessen, dass wir auch Menschen sind. Plötzlich müssen sie selbst den eigenen Freunden beim Sterben zusehen. Als hätten sich die Distrikte die Spiele ausgedacht!
Als Cinna sich blicken lässt, bin ich vom vielen Trösten gereizt und erschöpft, vor allem, weil das ständige Geheule mich an die Tränen erinnert, die zweifellos zu Hause um uns vergossen werden. Wie ich so in meinem dünnen Gewand dastehe und auf der Haut und im Herzen die Stiche spüre, wird mir bewusst, dass ich noch so einen mideidvollen Blick nicht ertrage. Deshalb blaffe ich Cinna, als er durch die Tür kommt, sofort an: »Wenn du jetzt auch noch weinst, bringe ich dich auf der Stelle um, das schwöre ich.«
Cinna lächelt nur. »War’s feucht heute Vormittag, oder was?«
»Du könntest mich auswringen«, erwidere ich.
Cinna legt mir den Arm um die Schultern und führt mich an den Mittagstisch. »Keine Bange. Ich lasse meine Gefühle nur in meine Arbeit einfließen. Auf diese Weise tue ich niemandem weh außer mir selbst.«
»Ich steh das nicht noch mal durch«, warne ich ihn.
»Ich weiß. Ich werde mit ihnen reden«, sagt Cinna.
Das Mittagessen tut mir gut. Fasan in juwelenfarbenem Aspik, Miniaturausgaben echter Gemüse, in Butter geschwenkt, sowie Kartoffelbrei mit Petersilie. Zum Nachtisch tunken wir Obststücke in einen Topf mit flüssiger Schokolade. Ich löffele das Zeug pur in mich hinein, sodass Cinna einen zweiten Topf bestellen muss.
»Und was werden wir bei der Eröffnungsfeier tragen?«, frage ich schließlich, während ich den zweiten Topf auskratze. »Stirnlampen oder Feuer?« Ich weiß, dass Peeta und ich während der Wagenparade irgendetwas an uns haben müssen, das mit Kohle zu tun hat.