»Etwas in der Art«, sagt Cinna.
Als es Zeit ist, die Kostüme für die Eröffnungsfeier anzulegen, erscheint mein Vorbereitungsteam wieder, doch Cinna schickt sie fort mit der Bemerkung, sie hätten ihren Job am Vormittag so fantastisch erledigt, dass nichts mehr zu tun sei. Dankbar ziehen sie sich zurück, um sich zu erholen, und überlassen mich Cinnas Händen. Als Erstes steckt er mein Haar in Zöpfen hoch, wie meine Mutter es gezeigt hat, dann widmet er sich meinem Make-up. Letztes Jahr hat er nur sehr wenig benutzt, damit das Publikum mich in der Arena wiedererkennt. Doch jetzt wirkt mein Gesicht mit den dramatischen Highlights und dunklen Schatten ganz fremd. Stark gewölbte Augenbrauen, markante Wangenknochen, glühende Augen, tiefviolette Lippen. Mein Outfit macht auf den ersten Blick nicht viel her, ein maßgeschneiderter schwarzer Overall, der mich vom Hals abwärts umschließt, mehr nicht. Cinna setzt mir eine halbe Krone auf den Kopf, die so aussieht wie die Krone, die ich als Siegerin aufgesetzt bekommen habe, nur dass diese hier nicht aus Gold ist, sondern aus schwerem schwarzem Metall. Dann dimmt er das Licht im Raum zu einem Halbdunkel und drückt auf einen Knopf im Stoff unten am Ärmel. Ich schaue nach unten und sehe fasziniert, wie mein Kostüm langsam zum Leben erwacht, ein sanftes goldenes Licht, das sich nach und nach in das Orangerot eines Kohlenfeuers verwandelt. Ich sehe aus, als wäre ich in glühende Kohle gekleidet - nein, ich bin ein Stück glühende Kohle aus dem Kamin. Die Farben werden heller und dunkler, wechseln und verschmelzen, wie bei Kohle.
»Wie hast du das denn hingekriegt?«, frage ich staunend.
»Portia und ich haben viele Stunden ins Feuer geguckt«, sagt Cinna. »Jetzt kannst du dich anschauen.«
Er dreht mich zu einem Spiegel hin, damit ich die Wirkung im Ganzen erkennen kann. Was ich sehe, ist kein Mädchen und auch keine Frau, sondern eine überirdische Erscheinung, die aussieht, als wäre sie in dem Vulkan zu Hause, der bei Haymitchs Jubiläumsspielen so viele Tribute vernichtet hat. Die schwarze Krone, die nun glühend rot ist, wirft seltsame Schatten auf mein dramatisch geschminktes Gesicht. Katniss, das Mädchen, das in Flammen stand, hat Feuerzungen, juwelenverzierte Umhänge und sanfte Kerzenlichtkleider abgelegt. Sie ist so gefährlich wie das Feuer selbst.
»Ich glaube … genau das habe ich gebraucht, um den anderen gegenüberzutreten«, sage ich.
»Ja, ich finde, die Zeit der roten Lippenstifte und Haarbänder liegt hinter dir«, sagt Cinna. Er berührt den Knopf an meinem Ärmel noch einmal und löscht das Licht. »Damit die Batterie nicht zu sehr strapaziert wird. Wenn du diesmal auf dem Wagen stehst, dann kein Winken, kein Lächeln. Ich möchte, dass du nur geradeaus schaust, als würdest du all die Zuschauer gar nicht wahrnehmen.«
»Endlich mal etwas, was ich gut kann«, sage ich.
Cinna muss sich noch um Verschiedenes kümmern, deshalb beschließe ich, ins Erdgeschoss des Erneuerungsstudios hinunterzufahren, wo die Tribute und ihre Wagen in einer riesigen Halle daraufwarten, dass die Eröffnungsfeier beginnt. Ich hatte gehofft, dort Peeta und Haymitch zu treffen, aber sie sind noch nicht da. Anders als letztes Jahr, als die Tribute praktisch an ihren Wagen klebten und keinen Kontakt suchten, geht es diesmal regelrecht gesellig zu. Die Sieger, also die Jubiläumstribute und ihre Mentoren, stehen in Grüppchen zusammen und unterhalten sich. Natürlich, sie kennen sich ja alle, nur ich kenne niemanden, aber ich bin sowieso nicht der Typ, der herumgeht und sich vorstellt. Deshalb tätschele ich nur einem meiner Pferde den Rücken und versuche, nicht aufzufallen.
Klappt aber nicht.
Ich höre ein krachendes Kauen, noch ehe ich merke, dass er neben mir steht: Ich drehe den Kopf und da sind die berühmten meergrünen Augen von Finnick Odair nur wenige Zentimeter von meinen entfernt. Er wirft sich noch einen Zuckerwürfel in den Mund und lehnt sich gegen mein Pferd.
»Hallo, Katniss«, sagt er, als würden wir uns seit Jahren kennen. Dabei sind wir uns noch nie begegnet.
»Hallo, Finnick«, sage ich beiläufig, obwohl mir in seiner Nähe unwohl ist, besonders weil er so viel nackte Haut zeigt.
»Möchtest du einen?«, fragt er und hält mir die Hand hin, auf der ein ganzer Berg Zuckerwürfel liegt. »Sind eigentlich für die Pferde, aber was soll’s? Sie haben noch viele Jahre Zeit, Zucker zu essen, während du und ich … na, wir zwei sollten ja wohl besser zugreifen, wenn wir was Süßes sehen.«
Finnick Odair ist eine Art lebende Legende in Panem. Mit vierzehn hat er die fünfundsechzigsten Hungerspiele gewonnen, und deshalb ist er immer noch einer der jüngsten Sieger überhaupt. Er stammt aus Distrikt 4 und war ein Karrieretribut, weshalb die Chancen sowieso gut für ihn standen. Aber was kein Trainer für sich verbuchen konnte, war Finnicks außergewöhnliche Schönheit. Groß gewachsen, athletisch, mit goldener Haut und bronzefarbenem Haar und diesen unglaublichen Augen. Während andere Tribute dieses Jahrgangs von den Sponsoren kaum mal eine Handvoll Getreide oder Streichhölzer geschenkt bekamen, mangelte es Finnick weder an Essen noch an Medikamenten oder Waffen. Als seine Konkurrenten nach einer Woche endlich begriffen hatten, dass sie vor allem ihn töten mussten, war es schon zu spät. Mit den Speeren und Messern, die er im Füllhorn gefunden hatte, konnte er schon geschickt umgehen. Aber als er einen silbernen Fallschirm mit einem Dreizack bekam - wohl das teuerste Geschenk, das ich je gesehen habe -, war die Sache gelaufen. Distrikt 4 lebt für die Fischerei. Sein ganzes Leben hat Finnick auf Booten verbracht. Der Dreizack war eine natürliche, tödliche Verlängerung seines Arms. Aus Lianen knüpfte er ein Netz, wickelte seine Gegner darin ein und durchbohrte sie mit dem Dreizack. Innerhalb weniger Tage hatte er die Krone errungen.
Seitdem waren die Bewohner des Kapitols ihm verfallen.
Aufgrund seiner Jugend durften sie ihn in den ersten ein, zwei Jahren nicht anrühren. Aber seit er sechzehn ist, wird er während seiner alljährlichen Aufenthalte im Rahmen der Hungerspiele von glühenden Verehrerinnen geradezu belagert. Keiner schenkt er seine Gunst lange. Manchmal hat er in einem Jahr vier oder fünf Liebschaften nacheinander. Ob alt oder jung, hübsch oder hässlich, reich oder megareich - er leistet ihnen Gesellschaft und nimmt ihre extravaganten Geschenke an, aber er bleibt nie, und wenn er einmal fort ist, kommt er nie zurück.
Ich kann nicht bestreiten, dass Finnick einer der umwerfendsten und sinnlichsten Menschen auf unserem Planeten ist. Und doch ist es die Wahrheit, wenn ich sage, dass ich ihn nie anziehend fand. Vielleicht, weil er zu hübsch ist, vielleicht auch, weil er zu leicht zu haben ist - oder zu leicht zu verlieren.
»Nein danke«, sage ich zu dem angebotenen Zucker. »Aber dein Outfit würd ich mir gern irgendwann mal ausleihen.«
Er ist nur in ein goldenes Netz gehüllt, das geschickt in der Leiste zusammengeknotet ist, sodass man ihn streng genommen nicht als nackt bezeichnen kann. Viel nackter könnte er aber nicht sein. Sein Stylist hält es offenbar für vorteilhaft, wenn das Publikum so viel wie möglich von Finnick zu sehen bekommt.
»In dieser Aufmachung jagst du mir echt Angst ein. Was ist aus den hübschen Kleinmädchen-Kleidern geworden?«, fragt er. Er benetzt mit der Zunge leicht die Lippen. Wahrscheinlich macht das die meisten Leute völlig verrückt. Aber aus irgendeinem Grund muss ich an den alten Cray denken, der über einer armen, hungernden jungen Frau geifert.
»Bin rausgewachsen«, sage ich.
Finnick fasst an den Kragen meines Overalls und reibt den Stoff zwischen den Fingern. »Zu dumm, diese Sache mit dem Jubiläum. Du hättest im Kapitol wie die Made im Speck leben können. Schmuck, Geld, alles, was du willst.«
»Ich mag keinen Schmuck, und Geld habe ich mehr, als ich ausgeben kann. Wofür gibst du deins denn so aus, Finnick?«, frage ich ihn.
»Och, mit so gewöhnlichen Dingen wie Geld habe ich seit einer Ewigkeit nichts mehr am Hut«, antwortet er.