Mädchengeplapper. Was ich schon immer schlecht konnte. Meinungen äußern über Kleidung, Haare, Make-up. Also lüge ich. »Ja, er hat mir geholfen, meine eigene Kleiderkollektion zu entwerfen. Du müsstest mal sehen, was er aus Samt alles machen kann.« Samt. Der einzige Stoff, der mir auf die Schnelle eingefallen ist.
»Hab ich. Auf deiner Siegertour. Das Schulterfreie, das du in Distrikt 2 anhattest? Das Tiefblaue mit den Diamanten? Es war so umwerfend, dass ich am liebsten durch den Bildschirm gegriffen und es dir vom Leib gerissen hätte«, sagt Johanna.
Das glaube ich gern, denke ich. Und ein paar Zentimeter meines Fleisches gleich mit.
Während wir auf die Aufzüge warten, schält Johanna sich aus dem Rest ihres Baums, lässt ihn zu Boden fallen und kickt ihn angewidert weg. Bis auf ihre waldgrünen Slipper trägt sie jetzt keinen Fetzen mehr am Leib. »So ist’s besser.«
Wir fahren im selben Aufzug, und die ganze Fahrt bis in den siebten Stock plaudert sie mit Peeta über seine Gemälde, während das Licht seines noch immer glühenden Kostüms von ihren nackten Brüsten reflektiert wird. Als sie ausgestiegen ist, tue ich so, als wäre nichts, aber ich weiß, dass er grinst. Erst als sich die Tür hinter Chaff und Seeder schließt und wir allein sind, stoße ich seine Hand weg. Er prustet los.
»Was ist?«, fahre ich ihn an, als wir auf den Gang treten.
»Das ist deinetwegen, Katniss. Merkst du das nicht?«, sagt er.
»Was ist meinetwegen?«, frage ich zurück.
»Na, dass die sich alle so benehmen. Finnick mit seinen Zuckerwürfeln und Chaff, der dich küsst, und der Striptease von Johanna.« Er versucht, etwas ernsthafter zu klingen, aber es will ihm nicht gelingen. »Sie spielen mit dir, weil du so … du weißt schon.«
»Nein, weiß ich nicht«, sage ich. Ich habe wirklich keinen Schimmer, wovon er redet.
»Na, damals in der Arena, da wolltest du mich nicht mal nackt angucken, als ich schon halb tot war. Du bist so … rein«, sagt er schließlich.
»Bin ich nicht!«, entgegne ich. »Letztes Jahr habe ich dir doch jedes Mal, wenn eine Kamera in der Nähe war, die Kleider vom Leib gerissen!«
»Schon, aber … ich meine, für das Kapitol bist du rein«, sagt er beschwichtigend. »Für mich bist du genau richtig. Sie wollen dich nur ein bisschen aufziehen.«
»Nein, die wollen sich über mich lustig machen, genau wie du!«, rufe ich.
»Nein.« Peeta schüttelt den Kopf, aber er unterdrückt noch immer ein Lächeln. Ich bin drauf und dran, noch mal zu überdenken, wer von uns beiden lebend aus diesen Spielen rauskommen soll, als sich der andere Aufzug öffnet.
Haymitch und Effie gesellen sich zu uns und sehen irgendwie zufrieden aus. Plötzlich verhärtet sich Haymitchs Gesichtsausdruck.
Was habe ich jetzt schon wieder angestellt?, will ich gerade sagen, aber da merke ich, dass er über meine Schulter hinweg auf den Eingang zum Speisesaal starrt.
Effie guckt in die gleiche Richtung, doch sie strahlt, als sie sagt: »Offenbar bekommt ihr dieses Jahr zwei im Partnerlook.«
Ich drehe mich um und sehe das rothaarige Avoxmädchen, das mich letztes Jahr bis zum Beginn der Spiele bedient hat. Ich freue mich schon, hier eine Freundin zu haben, als mir auffällt, dass der junge Mann neben ihr, auch ein Avox, ebenfalls rotes Haar hat. Das muss Effie mit Partnerlook gemeint haben.
Dann überläuft mich ein Schauer. Ihn kenne ich auch. Nicht aus dem Kapitol, sondern vom Hob, wo wir all die Jahre miteinander geplaudert und bei einer Suppe von Greasy Sae gescherzt haben, und von diesem letzten Tag, als er bewusstios auf dem Platz lag, während Gale zu verbluten drohte.
Unser neuer Avox ist Darius.
16
Haymitch packt mich am Handgelenk, als wollte er mich zurückhalten, aber ich bin so unfähig zu sprechen wie Darius. Haymitch hat mir mal erzählt, dass die Folterknechte des Kapitols irgendwas mit den Zungen der Avoxe anstellen, damit sie nie mehr sprechen können. In meinem Kopf höre ich Darius’ Stimme, wie sie hell und ausgelassen über den Hob schallt und mich aufzieht. Aber nicht so, wie die anderen Sieger mich jetzt hänseln, denn wir mochten uns wirklich. Wenn Gale ihn sehen könnte …
Jede Bewegung auf Darius zu, jede Geste des Erkennens würde ihm unweigerlich eine Bestrafung einbringen, das weiß ich. Und so starren wir einander nur an. Darius, der jetzt ein stummer Sklave ist; ich, die dem Tod entgegengeht. Was sollten wir uns auch sagen? Dass es uns um das Schicksal des anderen leidtut? Dass wir mit dem anderen leiden? Dass wir froh sind, dass wir uns kennenlernen durften?
Nein, Darius hat keinen Grund, froh darüber zu sein, dass er mich kennengelernt hat. Wäre ich damals da gewesen und hätte Thread gestoppt, wäre er nicht vorgetreten, um Gale zu retten. Dann wäre er jetzt kein Avox. Wäre er jetzt nicht mein Avox, um genau zu sein, denn Präsident Snow hat ihn zweifellos zu meinem ganz persönlichen Wohlbefinden hierher beordert. Ich winde mein Handgelenk aus Haymitchs Griff, stapfe zu meinem alten Schlafzimmer und schließe die Tür hinter mir ab. Ich setze mich auf die Bettkante, die Ellbogen auf den Knien, die Stirn auf den Fäusten, betrachte meinen in der Dunkelheit glühenden Overall und stelle mir vor, ich säße in meinem alten Zuhause in Distrikt 12, zusammengekauert neben dem Kamin. Die Batterie wird schwächer und langsam wird der Lichtschein von Schwarz überlagert.
Als irgendwann Effie an die Tür klopft, um mich zum Abendessen zu rufen, stehe ich auf und ziehe meinen Anzug aus, falte ihn ordentlich und lege ihn zusammen mit der Krone auf den Tisch. Im Bad wasche ich mir die dunklen Make-up-Streifen aus dem Gesicht. Ich ziehe ein einfaches T-Shirt und eine Hose an und gehe hinunter in den Flur zum Speisesaal.
Während des Essens bekomme ich nicht viel mit, außer dass Darius und das rothaarige Avoxmädchen uns bedienen. Effie, Haymitch, Cinna, Portia und Peeta sind da und unterhalten sich, vermutlich über die Eröffnungsfeier. Doch wirklich anwesend bin ich eigentlich nur ein einziges Mal, als ich absichdich eine Schüssel mit Erbsen zu Boden fallen lasse und mich, bevor jemand eingreifen kann, bücke, um sie aufzulesen. Darius hockt sich neben mich, ich schiebe die Schüssel zu ihm hin, und für kurze Zeit arbeiten wir Seite an Seite, für niemanden sichtbar, und sammeln die Erbsen ein. Einen kurzen Augenblick lang berühren sich unsere Hände. Unter der butterigen Soße der Erbsen spüre ich seine raue Haut. In der kurzen, verzweifelten Verschränkung unserer Finger drücken wir all die Worte aus, die wir uns niemals werden sagen können. Dann gackert Effie hinter mir: »Das ist nicht deine Aufgabe, Katniss!«, und er lässt los.
Als wir hinübergehen, um uns die Aufzeichnung der Eröffnungsfeier anzusehen, zwänge ich mich zwischen Haymitch und Cinna aufs Sofa, ich will nicht neben Peeta sitzen. Das schreckliche Erlebnis mit Darius gehört zu mir und Gale, vielleicht noch zu Haymitch, aber nicht zu Peeta. Vielleicht kannte er Darius vom flüchtigen Grüßen, aber Peeta gehörte nicht auf den Hob wie wir. Abgesehen davon bin ich immer noch sauer auf ihn, weil er mich zusammen mit den anderen Siegern ausgelacht hat, und Mitgefühl und Trost von ihm ist das Letzte, was ich jetzt möchte. Ich will ihn in der Arena retten, das ja, aber mehr bin ich ihm nicht schuldig.
Es ist ja in normalen Jahren schon schlimm, dass sie uns in Kostüme stecken und auf Wagen durch die Straßen ziehen lassen, überlege ich, während ich mir die Prozession um den Zentralen Platz anschaue. Jugendliche in Kostümen sind schon lächerlich, aber alternde Sieger sind, wie man sieht, einfach nur bemitleidenswert. Ein paar Jüngere wie Johanna und Finnick oder solche, deren Körper noch nicht vom Verfall gezeichnet sind, wie Seeder und Brutus, können immerhin ein wenig Würde wahren. Aber die, die Opfer von Alkohol, Morfix oder Krankheit sind, und das sind die meisten, sehen in ihren Kostümen, die Kühe oder Bäume oder Brotlaibe darstellen, einfach grotesk aus. Letztes Jahr haben wir uns über jeden Konkurrenten ausführlich unterhalten, aber heute fällt nur hier und da mal ein Kommentar. Kein Wunder, dass die Menge durchdreht, als Peeta und ich erscheinen, denn in unseren fantastischen Kostümen sehen wir wahnsinnig jung und stark und schön aus. Genau so, wie Tribute aussehen sollen.