Irgendwo in weiter Ferne gibt es einen Distrikt 12, wo meine Mutter, meine Schwester und meine Freunde mit den Folgen dieses Abends leben müssen. Nur einen kleinen Flug mit dem Hovercraft entfernt liegt eine Arena, wo auf Peeta und mich und die anderen Tribute unsere Strafe wartet. Doch selbst wenn wir alle ein schreckliches Ende finden, ist heute Abend auf der Bühne etwas passiert, das nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann. Wir Sieger haben unseren eigenen Aufstand inszeniert und vielleicht, ganz vielleicht, wird es dem Kapitol nicht gelingen, ihn zu unterdrücken.
Wir warten auf die anderen, doch als die Fahrstuhltür aufgeht, erscheint nur Haymitch. »Das ist Wahnsinn da draußen. Sie haben alle nach Hause geschickt und die Zusammenfassung der Interviews im Fernsehen ist gestrichen.«
Peeta und ich laufen schnell zum Fenster und versuchen, in dem Tumult weit unter uns auf den Straßen etwas zu erkennen. »Was sagen sie?«, fragt Peeta. »Fordern sie den Präsidenten auf, die Spiele zu stoppen?«
»Ich glaube nicht, dass sie wissen, was sie fordern sollen. Die ganze Situation ist beispiellos. Schon die Vorstellung, sich den Plänen des Kapitols zu widersetzen, verwirrt die Leute hier«, sagt Haymitch. »Aber es ist ausgeschlossen, dass Snow die Spiele absetzt. Das wisst ihr doch, oder?«
Ich weiß es. Natürlich kann er jetzt keinen Rückzieher mehr machen. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als zurückzuschlagen, und zwar mit voller Härte. »Sind die anderen nach Hause gegangen?«, frage ich.
»Das wurde ihnen befohlen. Ich weiß nicht, ob sie heil durch die Menschenmenge kommen«, sagt Haymitch.
»Dann werden wir Effie nie wiedersehen«, sagt Peeta. Im letzten Jahr haben wir sie am Morgen der Spiele nicht getroffen. »Richte ihr unseren Dank aus.«
»Mehr als das. Mach etwas ganz Besonderes daraus. Es ist schließlich Effie«, sage ich. »Sag ihr, wie sehr wir ihre Hilfe zu schätzen wissen, dass sie die beste Betreuerin aller Zeiten war, und sag ihr … sag ihr ganz liebe Grüße.«
Eine Zeit lang stehen wir nur schweigend da und zögern das Unvermeidliche hinaus. Dann spricht Haymitch es aus. »Und jetzt müssen wir uns wohl auch verabschieden.«
»Irgendeinen letzten Ratschlag?«, fragt Peeta.
»Bleibt am Leben«, sagt Haymitch schroff. Das ist schon fast ein Running Gag zwischen uns. Er nimmt uns beide kurz in den Arm, und ich weiß, dass es das Äußerste ist, was er ertragen kann. »Geht ins Bett. Ihr müsst euch ausruhen.«
Ich weiß, dass ich Haymitch eine ganze Menge sagen müsste, aber mir fällt nichts ein, was er nicht schon weiß, und außerdem ist meine Kehle so zugeschnürt, dass ich wahrscheinlich sowieso keinen Ton herausbringen würde. Also lasse ich schon wieder Peeta für uns beide sprechen.
»Pass auf dich auf, Haymitch«, sagt er.
Wir sind schon im Flur, als Haymitchs Stimme uns aufhält. »Katniss, wenn du in der Arena bist«, sagt er. Dann stockt er. Er blickt so finster, dass ich mir sicher bin, ihn jetzt schon enttäuscht zu haben.
»Was dann?«, frage ich abwehrend.
»Dann vergiss nicht, wer der Feind ist«, sagt Haymitch. »Das ist alles. Jetzt los. Raus mit euch.«
Wir gehen den Flur entlang. Peeta will in sein Zimmer, um die Schminke abzuwaschen, und in ein paar Minuten nachkommen, aber das lasse ich nicht zu. Wenn eine Tür zwischen uns zugeht, wird sie garantiert verschlossen, und dann muss ich die Nacht ohne ihn verbringen. Außerdem gibt es in meinem Zimmer auch eine Dusche. Ich weigere mich, seine Hand loszulassen.
Schlafen wir? Ich weiß es nicht. Wir verbringen die Nacht eng umschlungen, in einem Land zwischen Träumen und Wachen. Wir reden nicht. Keiner will den anderen stören und wir hoffen, so ein paar kostbare Minuten der Ruhe zu gewinnen.
Cinna und Portia kommen mit dem Morgengrauen, und ich weiß, dass Peeta gehen muss. Die Tribute müssen allein in die Arena. Er gibt mir einen flüchtigen Kuss. »Bis bald«, sagt er.
»Ja, bis bald«, antworte ich.
Cinna, der mir beim Ankleiden für die Spiele helfen wird, begleitet mich hinaus aufs Dach. Ich will schon die Leiter ins Hovercraft hinaufsteigen, als es mir einfällt. »Ich hab mich nicht von Portia verabschiedet.«
»Ich werde es ihr ausrichten«, sagt Cinna.
Der elektrische Strom hält mich oben auf der Leiter, bis der Arzt mir den Aufspürer in den linken Unterarm einpflanzt. Damit können sie mich in der Arena jederzeit finden. Das Hovercraft hebt ab, und ich schaue aus dem Fenster, bis es schwarz wird. Cinna drängt mich zu essen und dann, als er damit keinen Erfolg hat, zu trinken. Ich schaffe es, kleine Schlucke Wasser zu trinken, ich denke an die Tage im letzten Jahr, als ich so ausgetrocknet war, dass ich fast gestorben wäre. Und ich denke daran, dass ich meine Kraft brauche, um Peeta zu retten.
Als wir im Startraum der Arena ankommen, gehe ich unter die Dusche. Cinna flicht mir einen Zopf, ich ziehe einfache Unterwäsche an, und Cinna hilft mir mit dem Rest. In diesem Jahr gehen die Tribute in einem eng anliegenden blauen Overall aus hauchdünnem Stoff, der vorn mit einem Reißverschluss zugezogen wird. Dazu ein fünfzehn Zentimeter breiter gepolsterter Gurt aus glänzendem lila Plastik. Nylonschuhe mit Gummisohlen.
»Was hältst du davon?«, frage ich und halte Cinna den Stoff hin, damit er ihn fühlen kann.
Mit gerunzelter Stirn reibt er das dünne Material zwischen den Fingern. »Ich weiß nicht. Er wird wenig Schutz gegen Kälte oder Nässe bieten.«
»Und gegen Sonne?«, frage ich und stelle mir gleißende Sonne über einer öden Wüste vor.
»Vielleicht. Wenn er behandelt ist«, sagt er. »Ach, das hier hätte ich fast vergessen.« Er holt meine goldene Spotttölpelbrosche aus der Tasche und steckt sie mir an den Overall.
»Mein Kleid gestern Abend war wundervoll«, sage ich. Wundervoll und waghalsig. Aber das weiß Cinna natürlich.
»Ich dachte mir, dass es dir gefallen könnte«, sagt er mit einem gezwungenen Lächeln.
Genau wie letztes Jahr sitzen wir Hände haltend da, bis die Stimme mir sagt, ich soll mich startklar machen. Er begleitet mich zu der runden Metallplatte und zieht den Reißverschluss oben ganz zu. »Nicht vergessen, Mädchen in Flammen«, sagt er. »Ich setze immer noch auf dich.« Er küsst mich auf die Stirn und tritt zurück, als sich die Glasglocke über mich senkt.
»Danke«, sage ich, obwohl er mich wahrscheinlich nicht hören kann. Ich hebe das Kinn, trage den Kopf hoch, wie er mir immer rät, und warte darauf, dass die Metallplatte abhebt. Aber nichts passiert. Und immer noch nicht.
Ich schaue Cinna an und hebe fragend die Augenbrauen. Er schüttelt nur leicht den Kopf, genauso verwirrt wie ich. Weshalb die Verzögerung?
Plötzlich wird die Tür hinter ihm aufgerissen und drei Friedenswächter stürmen in den Raum. Zwei drehen Cinna die Arme auf den Rücken und legen ihm Handschellen an, während der dritte ihm mit solcher Gewalt gegen die Schläfe schlägt, dass er auf die Knie sinkt. Doch sie schlagen ihn mit ihren metallbesetzten Handschuhen immer weiter, bis er überall im Gesicht und am Körper klaffende Wunden hat. Ich schreie wie am Spieß, schlage gegen das Glas, das nicht nachgibt, und versuche, zu ihm zu gelangen. Die Friedenswächter beachten mich gar nicht, sie ziehen Cinnas schlaffen Körper aus dem Raum. Nur die Blutspuren auf dem Boden bleiben übrig.
Elend und panisch merke ich, wie die Metallplatte abhebt. Ich bin immer noch an das Glas gelehnt, als mir eine Brise in die Haare fährt und ich mich zwinge, aufrecht zu stehen. Gerade noch rechtzeitig, denn jetzt entfernt sich das Glas und ich stehe ungeschützt in der Arena. Irgendetwas scheint mit meinen Augen nicht zu stimmen. Der Boden ist zu hell und leuchtend und hört nicht auf zu schwanken. Mit zusammengekniffenen Augen schaue ich auf meine Füße und sehe, dass die Metallplatte von blauen Wellen umgeben ist, die über meine Stiefel schwappen. Langsam hebe ich den Blick und sehe das Wasser, das sich in alle Richtungen erstreckt.