Ich schieße einen Pfeil auf Enobaria ab, die gefährlich nah gekommen ist, doch sie hat damit gerechnet und taucht wieder ins Wasser, ohne getroffen zu werden. Gloss ist nicht ganz so schnell, und ich jage ihm einen Pfeil in die Wade, als er in die Wellen springt. Ich hänge mir noch einen Bogen und einen zweiten Köcher mit Pfeilen um und stecke mir zwei lange Messer und eine Ahle, so ein spitzes Ding, mit dem man Löcher in Ledergürtel macht, in den Gurt. Dann laufe ich zurück zu Finnick.
»Mach was dagegen, ja?«, sagt er und deutet auf Brutus, der auf uns zugerannt kommt. Er hat den Gurt abgenommen und hält ihn wie einen Schild zwischen den Händen. Ich ziele und schieße, doch er wehrt den Pfeil mit dem Gurt ab, bevor er ihm die Leber durchbohren kann. Dort, wo der Pfeil den Gurt durchsticht, spritzt eine lilafarbene Flüssigkeit heraus und Brutus ins Gesicht. Als ich die Sehne erneut spanne, wirft er sich flach auf den Boden, rollt sich ein paar Meter bis zum Wasser und taucht unter. Ich höre, wie hinter mir etwas Metallisches zu Boden fällt. »Lass uns abhauen«, sage ich zu Finnick.
Während ich mit Brutus zugange war, haben Enobaria und Gloss es klammheimlich bis zum Füllhorn geschafft. Brutus ist in Schussweite und irgendwo ganz in der Nähe wird auch Cashmere sein. Diese vier klassischen Karrieros sind garantiert schon längst Verbündete. Wenn ich nur meine eigene Sicherheit zu bedenken hätte, würde ich es vielleicht mit ihnen aufnehmen, mit Finnick an meiner Seite. Doch ich denke an Peeta. Da entdecke ich ihn, er sitzt immer noch auf seiner Metallplatte. Ich laufe los, und Finnick folgt mir, ohne Fragen zu stellen, als hätte er gewusst, dass ich genau das tun würde. Als ich so nah wie möglich bei Peeta bin, ziehe ich die Messer aus meinem Gurt, ich will zu ihm schwimmen und ihn irgendwie an Land bringen.
Finnick legt mir eine Hand auf die Schulter. »Ich hole ihn.«
Misstrauen lodert in mir auf. Könnte das nur ein Trick sein? Erst mein Vertrauen gewinnen und dann zu Peeta schwimmen und ihn ertränken? »Das mach ich schon«, beharre ich.
Doch Finnick hat bereits alle Waffen fallen lassen. »Streng dich lieber nicht zu sehr an. Nicht in deinem Zustand«, sagt er und tätschelt mir den Bauch.
Ach ja, ich bin ja schwanger, denke ich. Während ich überlege, was er wohl denkt und wie ich mich verhalten soll - vielleicht mich übergeben oder so -, hat Finnick sich schon ans Ufer gestellt.
»Gib mir Deckung«, sagt er und taucht mit einem gekonnten Kopfsprung ins Wasser.
Ich halte den Bogen hoch, um alle Angreifer, die uns verfolgen könnten, vom Füllhorn fernzuhalten, aber anscheinend legt es niemand darauf an. Wie zu erwarten, haben sich Gloss, Cashmere, Enobaria und Brutus schon zusammengerottet und überlegen nun, welche Waffen sie nehmen sollen. Ein schneller Rundumblick verrät mir, dass die meisten Tribute immer noch auf ihren Platten festsitzen. Nein, Moment mal, da steht jemand auf der Speiche links neben mir, gegenüber von Peeta. Es ist Mags. Doch weder steuert sie das Füllhorn an, noch versucht sie zu fliehen. Stattdessen hüpft sie ins Wasser und paddelt auf mich zu, ihre grauen Haare tauchen immer wieder auf. Sie ist zwar alt, aber nach achtzig Jahren in Distrikt 4 kann sie sich vermutlich noch immer problemlos über Wasser halten.
Finnick ist jetzt bei Peeta und schleppt ihn ab, einen Arm um seine Brust gelegt, während er mit dem anderen mit leichten Schlägen durchs Wasser rudert. Peeta lässt sich willig mitziehen. Ich weiß nicht, wie Finnick ihn überzeugt hat, sich ihm zu überlassen - vielleicht hat er ihm den Armreif gezeigt. Vielleicht hat es Peeta auch genügt, dass ich auf ihn warte. Als sie den Strand erreichen, helfe ich dabei, Peeta aufs Trockene zu ziehen.
»Da bin ich wieder«, sagt er und gibt mir einen Kuss. »Wir haben Verbündete.«
»Ja. Ganz in Haymitchs Sinn«, sage ich.
»Hilf mir mal auf die Sprünge, haben wir sonst noch eine Abmachung mit irgendwem?«, fragt Peeta.
»Nur mit Mags, glaube ich.« Ich mache eine Kopfbewegung zu der alten Frau, die sich stoisch in unsere Richtung vorwärtskämpft.
»Mags kann ich nicht im Stich lassen«, sagt Finnick. »Sie ist eine der wenigen, die mich wirklich mögen.«
»Ich hab nichts gegen Mags«, sage ich. »Vor allem jetzt, wo ich die Arena sehe. Mit Mags’ Angelhaken haben wir bestimmt die besten Chancen, zu einer Mahlzeit zu kommen.«
»Katniss wollte sie ja schon vom ersten Tag an als Verbündete«, sagt Peeta.
»Katniss hat ein erstaunlich gutes Urteilsvermögen«, sagt Finnick. Er fasst mit der Hand ins Wasser und hebt Mags heraus, als wäre sie so leicht wie ein Hündchen. Sie macht irgendeine Bemerkung, in der ich das Wort »treiben« herauszuhören meine, dann klopft sie auf ihren Gurt.
»Guck mal, sie hat recht. Und da hat es noch jemand rausgekriegt.« Finnick zeigt auf Beetee. Er rudert mit den Armen wild durch die Wellen, schafft es aber, den Kopf über Wasser zu halten.
»Was?«, frage ich.
»Die Gurte. Das sind Schwimmhilfen«, sagt Finnick. »Bewegen muss man sich aus eigener Kraft, aber immerhin bewahren die Dinger einen vor dem Ertrinken.«
Fast hätte ich Finnick gebeten, auf Beetee und Wiress zu warten und sie mitzunehmen, aber Beetee ist drei Speichen weit entfernt und Wiress sehe ich nicht mal. Ich schätze, Finnick würde sie genauso schnell umbringen wie den Tribut aus Distrikt 5, deshalb schlage ich lieber vor weiterzugehen. Ich reiche Peeta einen Bogen, einen Köcher mit Pfeilen und ein Messer, den Rest behalte ich für mich. Doch Mags zieht mich am Ärmel und redet auf mich ein, bis ich ihr die Ahle gebe. Erfreut klemmt sie sich den Griff zwischen den zahnlosen Kiefer und streckt die Arme nach Finnick aus. Er wirft sein Netz über die Schulter, hebt Mags hoch, nimmt den Dreizack in die freie Hand, und dann rennen wir davon, fort vom Füllhorn.
Hinter dem Strand erhebt sich ein Wald mit hohen Bäumen. Nein, eigentlich kein Wald. Jedenfalls nicht so einer, wie ich ihn kenne. Ein Dschungel. Das fremde, fast schon veraltete Wort fällt mir ein. Ich habe es in irgendwelchen Hungerspielen gehört oder von meinem Vater gelernt. Die meisten Bäume kenne ich nicht, sie haben glatte Stämme und nur wenige Äste. Die Erde ist ganz schwarz und schwammig, an vielen Stellen wird sie verdeckt von einem Rankengewirr mit bunten Blüten. Die Sonne ist gleißend, die Luft feuchtwarm und schwer; ich habe das Gefühl, dass man hier niemals richtig trocken wird. Der dünne blaue Stoff meines Overalls lässt das Meerwasser schnell verdunsten, aber jetzt klebt er schon vor Schweiß an mir.
Peeta übernimmt die Führung, er bahnt sich mit dem langen Messer einen Weg durchs dichte Gestrüpp. Ich lasse Finnick an zweiter Stelle gehen, denn auch wenn er der Stärkste ist, mit Mags hat er alle Hände voll zu tun. Außerdem kann er zwar großartig mit dem Dreizack umgehen, aber der ist hier im Dschungel weniger nützlich als meine Pfeile. Bei der Hitze und den Steigungen dauert es nicht lange, bis wir außer Atem geraten. Doch Peeta und ich haben hart trainiert, und Finnick hat so eine außergewöhnliche Konstitution, dass er sogar mit Mags über der Schulter eineinhalb Kilometer zügig marschiert, ehe er um eine Pause bittet. Und selbst dann scheint er das eher für Mags zu tun als für sich selbst.
Durch das Laub ist das Rad im Wasser nicht mehr zu sehen, deshalb klettere ich auf einen Baum mit gummiartigen Ästen, um etwas zu erkennen. Ich bereue es sofort.
Um das Füllhorn herum scheint der Boden zu bluten, das Wasser ist dunkelrot gefleckt. Leichen liegen auf dem Boden und treiben im Wasser, doch aus dieser Entfernung kann ich nicht erkennen, wer tot ist und wer lebt, zumal alle die gleiche Kleidung tragen. Ich sehe nur, dass einige der kleinen blauen Gestalten immer noch kämpfen. Nun ja, was hatte ich erwartet? Dass die geschlossene Kette der Sieger gestern Abend eine Art allgemeinen Waffenstillstand in der Arena bedeuten würde? Nein, das habe ich nie gedacht. Aber ich hatte wohl gehofft, dass die Leute ein bisschen … Zurückhaltung zeigen würden? Oder wenigstens Widerstreben. Bevor sie sich ins Gemetzel stürzen. Dabei kanntet ihr euch alle, denke ich. Man hatte den Eindruck, ihr wärt Freunde.