Finnick fragt mich über das Nagetier aus, das wir Baumratte nennen. Auf welcher Höhe es im Baum saß, wie lange ich es beobachtet habe, ehe ich schoss, und was es gemacht hat. Ich kann mich nicht erinnern, dass es groß was gemacht hätte. Es hat nach Insekten geschnüffelt oder so.
Mir graut vor der Nacht. Immerhin bieten die dicht geflochtenen Grasmatten etwas Schutz vor dem, was nach einbrechender Dunkelheit womöglich über den Dschungelboden kriechen wird. Doch kurz nachdem die Sonne hinter den Horizont geglitten ist, geht ein blasser Mond auf, sodass wir gerade genug sehen können. Unsere Gespräche verstummen, denn wir wissen, was jetzt kommt. Wir stellen uns am Eingang der Hütte in einer Reihe auf und Peeta schiebt seine Hand in meine.
Der Himmel wird hell erleuchtet vom Wappen des Kapitols, das aussieht, als würde es im Himmel schweben. Während ich der Hymne lausche, denke ich: Für Finnick und Mags wird es schwerer. Aber dann ist es auch für mich schwer, die Gesichter der acht toten Sieger zu sehen, die in den Himmel projiziert werden.
Der Mann aus Distrikt 5, den Finnick mit seinem Dreizack umgebracht hat, erscheint als Erster. Das bedeutet, dass alle Tribute von 1 bis 4 noch am Leben sind - die vier Karrieros, Beetee und Wiress und natürlich Mags und Finnick. Auf den Mann aus Distrikt 5 folgen der männliche Morfixer aus 6, Cecelia und Woof aus 8, die beiden aus 9, die Frau aus 10 und Seeder aus 11. Danach erscheint wieder das Wappen des Kapitols mit ein wenig abschließender Musik und dann wird der Himmel dunkel bis auf den Mond.
Keiner sagt etwas. Ich kann nicht behaupten, ich hätte einen der Toten gut gekannt. Aber ich denke an die drei Kinder, die sich an Cecelia geklammert haben, als sie fortgebracht wurde.
Daran, wie freundlich Seeder bei unserer Begegnung im Trainingscenter zu mir war. Selbst der Gedanke an den Morfixer mit den glasigen Augen, wie er mir gelbe Blumen auf die Wangen malt, versetzt mir einen Stich. Alle tot. Alle weg.
Ich weiß nicht, wie lange wir noch so dagestanden hätten, wäre nicht ein silberner Fallschirm durch die Blätter geglitten und vor uns gelandet. Niemand streckt die Hände danach aus.
»Was glaubt ihr, für wen das ist?«, sage ich schließlich.
»Keine Ahnung«, sagt Finnick. »Was haltet ihr davon, wenn Peeta ihn bekommt? Weil er heute gestorben ist.«
Peeta knotet die Schnur auf und breitet das kreisrunde Stück Seide auf dem Boden aus. Auf dem Fallschirm liegt ein kleiner Metallgegenstand, den ich nicht einordnen kann. »Was ist das?«, frage ich. Keiner weiß es. Wir lassen ihn von Hand zu Hand gehen und untersuchen ihn der Reihe nach. Es ist ein Metallrohr, das sich am einen Ende leicht verjüngt. Am anderen Ende hat es eine kleine, nach unten gebogene Tülle. Es kommt mir vage bekannt vor. Ein Teil, das von einem Fahrrad abgefallen sein könnte, von einer Gardinenstange, es könnte alles Mögliche sein.
Peeta bläst hinein, um zu prüfen, ob es einen Ton macht. Macht es nicht. Finnick steckt den kleinen Finger hinein, um es als Waffe auszuprobieren. Unbrauchbar.
»Kannst du damit fischen, Mags?«, frage ich. Mags, die mit fast allem fischen kann, schüttelt den Kopf und grunzt.
Ich lege das Rohr auf meine Hand und lasse es hin und her rollen. Da wir Verbündete sind, arbeitet Haymitch bestimmt mit den Mentoren von Distrikt 4 zusammen. Er hat das Geschenk mit ausgesucht. Das bedeutet, dass es wertvoll ist. Uns sogar das Leben retten kann. Ich erinnere mich an letztes Jahr, als ich so nötig Wasser brauchte und er es mir nicht geschickt hat, weil er wusste, dass ich es finden konnte, wenn ich mir Mühe gab. In Haymitchs Geschenken oder in ihrem Ausbleiben verstecken sich wichtige Botschaften. Ich kann fast hören, wie er mich anknurrt: Streng dein Gehirn an, falls du eins hast. Was ist das?
Ich wische mir den Schweiß aus den Augen und halte das Geschenk ins Mondlicht. Ich drehe und wende es, schaue es aus verschiedenen Winkeln an, bedecke einzelne Teile und gebe sie dann wieder frei. Damit es mir seinen Zweck verrät. Schließlich stecke ich frustriert ein Ende in die Erde. »Ich geb’s auf. Vielleicht kriegen Beetee und Wiress es raus, wenn wir uns mit ihnen zusammentun.«
Ich strecke mich, lege die heiße Wange auf die Grasmatte, starre verärgert auf das Ding. Peeta reibt einen verspannten Punkt zwischen meinen Schultern und ich werde ein wenig lockerer. Ich frage mich, warum es sich kein bisschen abgekühlt hat, jetzt, da die Sonne untergegangen ist. Ich frage mich, was sie zu Hause wohl machen.
Prim. Meine Mutter. Gale. Madge. Ich stelle mir vor, wie sie mir zu Hause zuschauen. Jedenfalls hoffe ich, dass sie zu Hause sind. Nicht von Thread verhaftet. Oder bestraft wie Cinna. Wie Darius. Bestraft wegen mir. Alle.
Jetzt sehne ich mich nach ihnen, nach meinem Distrikt, meinem Wald. Ein anständiger Wald mit kräftigen Hartholzbäumen, reichlich Nahrung, mit Wild, vor dem man sich nicht ekeln muss. Rauschende Bäche. Kühle Brisen. Nein, kalte Winde, die diese erstickende Hitze wegblasen. Ich beschwöre einen solchen Wind mit meinen Gedanken, lasse mir von ihm kalte Wangen machen und taube Finger, und auf einmal hat das Metallding, das halb in der schwarzen Erde steckt, einen Namen.
»Ein Zapfen!«, rufe ich und setze mich kerzengerade auf.
»Was?«, fragt Finnick.
Ich ziehe das Ding aus der Erde und wische es sauber. Schließe die Hand um das sich verjüngende Ende, verberge es und schaue auf die Tülle. Ja, so ein Ding habe ich schon mal gesehen. An einem kalten, windigen Tag vor langer Zeit, als ich mit meinem Vater im Wald war. Es steckte fest in einem Loch, das in den Stamm eines Ahornbaums gebohrt war. Eine Öffnung für den Saft, der dann in unseren Eimer floss. Mit Ahornsirup wurde selbst unser fades Brot zu einer Leckerei. Nach dem Tod meines Vaters blieben seine Zapfhähne verschwunden, ich wusste nicht, was mit ihnen passiert war. Wahrscheinlich hatte er sie irgendwo im Wald versteckt. Wo niemand sie je finden wird.
»Das ist ein Zapfen. So was wie ein Hahn. Man steckt ihn in einen Baum und dann kommt Saft raus.« Ich schaue auf die kräftigen grünen Stämme um mich herum. »Na ja, es muss die richtige Sorte Baum sein.«
»Saft?«, sagt Finnick. Am Meer wächst auch nicht die richtige Sorte Bäume.
»Für Sirup«, sagt Peeta. »Aber in diesen Bäumen muss etwas anderes sein.«
Plötzlich sind wir alle auf den Beinen. Unser Durst. Der Mangel an Wasserquellen. Die spitzen Vorderzähne der Baumratte und ihr nasses Maul. In diesen Bäumen kann es nur eines geben, was begehrenswert ist. Finnick will den Zapfhahn schon mit einem Stein in die grüne Rinde eines kräftigen Baums hämmern, doch ich halte ihn zurück. »Warte. Nachher machst du ihn noch kaputt. Wir müssen erst ein Loch bohren«, sage ich.
Wir haben nichts zum Bohren, also bietet Mags ihre Ahle an, und Peeta schiebt sie direkt in die Rinde, sodass der Stift fünf Zentimeter tief im Stamm steckt. Abwechselnd vergrößern Peeta und Finnick das Loch mit der Ahle und den Messern, bis der Zapfhahn hineinpasst. Vorsichtig schiebe ich ihn in das Loch und dann treten wir alle erwartungsvoll zurück.
Zunächst passiert gar nichts. Dann rollt ein Wassertropfen an der Tülle herab und landet in Mags’ Hand. Sie leckt ihn ab und streckt die Hand wieder aus.
Wir bewegen den Zapfhahn hin und her, bis ein dünner Strahl herausfließt. Abwechselnd halten wir den Mund unter den Hahn und benetzen unsere ausgedörrte Zunge. Mags bringt eine Schale herbei, das Gras ist so fest geflochten, dass sie das Wasser hält. Wir füllen die Schale und lassen sie herumgehen, nehmen große Schlucke, und später, als unser Durst gelöscht ist, spritzen wir uns Wasser ins Gesicht und waschen uns. Der reine Luxus. Das Wasser ist eher warm wie alles hier, aber wir können jetzt nicht wählerisch sein.