Jetzt, wo wir nicht mehr an den Durst denken müssen, merken wir, wie erschöpft wir sind, und treffen Vorbereitungen für die Nacht. Letztes Jahr habe ich nachts immer versucht, meine Sachen zu packen für den Fall, dass ich schnell verschwinden müsste. Diesmal gibt es keinen Rucksack, den ich bereithalten könnte. Nur meine Waffen, die ich sowieso immer festhalte. Der Zapfhahn fällt mir ein und ich hole ihn aus dem Baumstamm. Ich befreie eine kräftige Ranke von ihren Blättern, ziehe sie durch die Röhre und binde den Zapfhahn sorgfältig an meinem Gurt fest.
Finnick will als Erster Wache halten und ich lasse ihn. Einer von uns beiden muss das übernehmen, bis es Peeta wieder gut geht. Ich strecke mich in der Hütte neben Peeta aus und sage Finnick, er soll mich wecken, wenn er müde wird. Nach ein paar Stunden werde ich von etwas aus dem Schlaf gerissen, das sich wie ein Glockenschlag anhört. Dong! Dong! Es klingt nicht genauso wie die Glocke, die an Neujahr im Justizgebäude läutet, aber doch so ähnlich, dass ich das Geräusch erkenne. Peeta und Mags schlafen einfach weiter, aber Finnick scheint genauso wachsam zu sein wie ich. Die Glocke verstummt.
»Ich hab zwölf gezählt«, sagt er.
Ich nicke. Zwölf. Was bedeutet das? Ein Glockenschlag für jeden Distrikt? Vielleicht. Aber warum? »Meinst du, das hat was zu bedeuten?«
»Keine Ahnung«, sagt er.
Wir warten auf weitere Anweisungen, zum Beispiel eine Nachricht von Claudius Templesmith. Eine Einladung zu einem Festmahl. Das einzig Bemerkenswerte passiert in weiter Ferne. Ein greller Blitz schlägt in einen hohen Baum ein und dann bricht ein Gewitter los. Ich vermute, das kündigt Regen an, eine Wasserquelle für alle, die keinen so schlauen Mentor wie Haymitch haben.
»Leg dich schlafen, Finnick. Ich bin jetzt sowieso mit der Wache dran«, sage ich.
Finnick zögert, aber niemand kann ewig wach bleiben. Er legt sich an den Eingang der Hütte, einen Dreizack in der Hand, und gleitet in einen unruhigen Schlaf.
Ich sitze mit Pfeil und Bogen da und schaue in den Dschungel, der im Mondlicht gespenstisch bleich und grün ist. Nach etwa einer Stunde lassen die Blitze nach. Dann höre ich, wie der Regen einsetzt und ein paar Hundert Meter entfernt auf die Blätter prasselt. Ich warte darauf, dass er bis zu uns kommt, aber das passiert nicht.
Beim Donnern der Kanone zucke ich zusammen, während meine schlafenden Gefährten davon unbeeindruckt bleiben. Es hat keinen Zweck, sie deswegen zu wecken. Ein weiterer Sieger tot. Ich will nicht darüber nachdenken, wer es sein mag.
Der undefinierbare Regen versiegt plötzlich, wie der Sturm letztes Jahr in der Arena.
Wenige Augenblicke darauf sehe ich, wie aus der Richtung, wo eben der Schauer fiel, ein Nebel leise heranschwebt. Eine ganz normale Reaktion, denke ich. Kühler Regen auf dem heißen Boden. Der Nebel kommt gleichmäßig näher. Kleine Zipfel schieben sich vor und formen sich zu Krallen, als würden sie den Rest hinter sich herziehen. Plötzlich stellen sich mir die Nackenhaare auf. Irgendetwas stimmt nicht mit diesem Nebel. Er rollt zu gleichförmig heran, um natürlich zu sein. Und wenn er nicht natürlich ist …
Ein widerlich süßer Geruch dringt mir in die Nase, und ich wende mich panisch den anderen zu, rufe, dass sie aufwachen sollen.
In den paar Sekunden, die es braucht, sie zu wecken, beginnt meine Haut Blasen zu werfen.
21
Kleine glühend heiße Stiche. Überall, wo die Nebeltröpfchen meine Haut berühren.
»Weg hier!«, schreie ich den anderen zu. »Schnell!«
Finnick ist sofort auf den Beinen, bereit, sich auf den Feind zu stürzen. Als er die Nebelwand sieht und begreift, wirft er sich die noch schlafende Mags über die Schulter und rennt los. Peeta ist ebenfalls aufgestanden, aber noch nicht ganz da. Ich packe ihn am Arm und ziehe ihn hinter Finnick her durch den Dschungel.
»Was ist? Was ist?«, fragt er verwirrt.
»Irgendein Nebel. Giftgas. Schnell, Peeta!«, dränge ich. Jetzt merke ich, dass die Folgen des Stromschlags doch gewaltig sind, auch wenn Peeta das am Tag bestritten hat. Er ist langsam, viel langsamer als sonst. Und das Gewirr aus Ranken und Gestrüpp, das mich manchmal aus dem Gleichgewicht bringt, lässt ihn bei jedem Schritt straucheln.
Ich drehe mich nach dem Nebel um, der sich wie ein Wall in alle Richtungen erstreckt. Ein schrecklicher Impuls zu fliehen, Peeta im Stich zu lassen und meine eigene Haut zu retten, durchzuckt mich. Es wäre so leicht, blitzschnell wegzurennen, vielleicht sogar auf einen Baum zu klettern, über die Nebelwand hinweg, die etwa zehn Meter hoch ist. Genau das habe ich bei den letzten Spielen getan, überlege ich, als die Mutationen auftauchten. Da bin ich losgerannt und habe erst wieder an Peeta gedacht, als ich das Füllhorn erreicht hatte. Diesmal bezwinge ich meine Panik, und bleibe bei ihm. Diesmal geht es nicht um mein Überleben, sondern um seins. Ich denke an die Menschen in den Distrikten, die auf die Bildschirme starren, darauflauern, ob ich wegrenne, wie das Kapitol es will, oder ob ich bleibe.
Ich verschränke meine Finger fest mit seinen und sage: »Guck auf meine Füße. Versuch in meine Fußstapfen zu treten.« Das hilft. So kommen wir ein wenig schneller voran, allerdings nicht schnell genug, um eine Pause einlegen zu können, der Nebel bleibt uns dicht auf den Fersen. Einzelne Tröpfchen lösen sich aus den Schwaden. Sie brennen, aber nicht wie Feuer. Es ist weniger heiß als schmerzhaft, wenn die chemische Substanz auf die Haut trifft, sich festbeißt und durch die Hautschichten frisst. Unsere Overalls helfen kein bisschen. Sie bieten so wenig Schutz, dass wir ebenso gut in Seidenpapier eingepackt sein könnten.
Finnick, der zunächst losgestürmt war, bleibt stehen, als er mitkriegt, dass wir in Schwierigkeiten stecken. Aber hier geht es nicht darum, etwas zu bekämpfen, man kann nur versuchen zu entkommen. Er ruft uns aufmunternde Worte zu, bemüht sich, uns anzuspornen, und seine Stimme ist für uns ein Wegweiser, aber mehr auch nicht.
Peeta verfängt sich mit seinem künstlichen Bein in einem Knäuel aus Schlingpflanzen, und ehe ich ihn auffangen kann, fällt er hin. Als ich ihm aufhelfe, bemerke ich etwas, das noch beunruhigender ist als die Blasen, noch bedrohlicher als die Verbrennungen. Seine linke Gesichtshälfte ist erschlafft, als wäre in den Muskeln kein Leben mehr. Das Lid hängt herab und verdeckt fast sein Auge. Sein Mund ist in einem merkwürdigen Winkel nach unten verzerrt. »Peeta …«, sage ich. Und in diesem Moment merke ich, wie ein Krampf meinen Arm durchzuckt.
Aus welchen chemischen Substanzen dieser Nebel auch besteht, er brennt nicht nur, er zielt auf unsere Nerven. Eine ganz neue Art von Angst durchfährt mich, und ich zerre Peeta weiter, was nur dazu führt, dass er erneut stolpert. Als ich ihn wieder hochgezogen habe, zucken meine Arme unkontrollierbar. Der Nebel ist jetzt ganz nah, weniger als einen Meter entfernt. Irgendetwas stimmt nicht mit Peetas Beinen, er versucht zu gehen, aber sie bewegen sich spastisch, marionettenhaft.
Irgendwie taumelt Peeta weiter, und da erst merke ich, dass Finnick zurückgekommen ist und Peeta mitschleift. Ich zwänge die eine Schulter, die ich offenbar noch in der Gewalt habe, unter Peetas Arm und gebe mein Bestes, um mit Finnicks schnellem Schritt mitzuhalten. Etwa zehn Meter liegen zwischen uns und dem Nebel, als Finnick stehen bleibt.
»Das bringt nichts. Ich muss ihn tragen. Kannst du Mags nehmen?«, fragt er mich.
»Ja«, sage ich entschlossen, obwohl mir das Herz in die Hose rutscht. Mags wiegt zwar höchstens dreißig Kilo, aber ich bin auch nicht gerade kräftig. Trotzdem, ich habe bestimmt schon Schwereres getragen. Wenn nur meine Arme nicht so wild zucken würden. Ich hocke mich hin, und sie legt sich über meine Schulter, wie sie es auch bei Finnick immer macht. Langsam strecke ich die Beine und mit durchgedrückten Knien schaffe ich es. Finnick trägt Peeta jetzt auf dem Rücken, und so gehen wir weiter, Finnick vorneweg, ich in der Spur, die er uns durchs Gestrüpp bahnt.