Der Nebel schiebt sich näher heran, still und regelmäßig und gleichförmig bis auf die greifenden Krallen. Während ich instinktiv wegrennen will, geht Finnick den Hügel schräg hinunter. Er versucht das Gas auf Distanz zu halten und zugleich das Wasser um das Füllhorn zu erreichen. Ja, Wasser, denke ich, während sich die Säuretropfen tiefer in mich hineinbohren. Jetzt bin ich so dankbar, dass ich Finnick nicht umgebracht habe, denn wie hätte ich Peeta ohne ihn lebend hier rausbekommen? So dankbar, dass jemand mir beisteht, wenn auch nur vorübergehend.
Mags kann nichts dafür, dass ich ins Straucheln gerate. Sie versucht sich leicht zu machen, aber Tatsache ist, dass ich so viel Gewicht nicht tragen kann. Zumal jetzt auch noch mein rechtes Bein steif zu werden scheint. Die ersten beiden Male rappele ich mich wieder auf, doch als ich das dritte Mal hinfalle und wieder hochkommen will, spielt mein Bein einfach nicht mehr mit. Es versagt und Mags rollt vor mir auf die Erde. Ich rudere mit den Armen, versuche mich an Ranken und Asten hochzuziehen.
Im Nu ist Finnick wieder bei mir, Peeta auf dem Rücken. »Es hat keinen Zweck«, sage ich. »Kannst du sie beide tragen? Geh nur weiter, ich hole euch schon ein.« Ein etwas zweifelhafter Vorschlag, aber ich sage es mit aller Zuversicht, die ich zustande bringe.
Ich sehe Finnicks Augen, grün im Mondlicht. Ich sehe sie so klar wie den hellen Tag. Fast wie Katzenaugen, seltsam reflektierend. Vielleicht, weil Tränen darin glänzen. »Nein«, sagt er. »Ich kann sie nicht beide tragen. Meine Arme machen nicht mit.« Es stimmt. Seine Arme zucken unkontrolliert an seinem Körper. Seine Hände sind leer. Von seinen drei Dreizacken ist nur noch einer übrig und den hält Peeta. »Es tut mir leid, Mags. Ich schaffe es nicht.«
Was dann passiert, geht so schnell und ist so sinnlos, dass ich keine Chance habe, es zu verhindern. Mags rappelt sich hoch, drückt Finnick einen Kuss auf die Lippen und humpelt dann geradewegs in den Nebel hinein. Sofort wird ihr Körper von wilden Zuckungen erfasst und in einem schrecklichen Tanz fällt sie zu Boden.
Ich möchte schreien, doch meine Kehle brennt wie Feuer. Ich höre den Kanonenschuss und weiß, dass ihr Herz aufgehört hat zu schlagen, dass sie tot ist, und doch mache ich einen unsinnigen Schritt in ihre Richtung. »Finnick?«, rufe ich heiser, aber er hat sich schon abgewandt und entfernt sich von dem Nebel. Weil mir nichts Besseres einfällt, taumele ich hinter ihm her, das unbrauchbare Bein nachziehend.
Zeit und Raum verlieren ihre Bedeutung, während der Nebel in mein Gehirn einzudringen scheint, mir die Gedanken verwirrt, alles unwirklich macht. Irgendein tief verwurzelter Überlebenstrieb sorgt dafür, dass ich hinter Finnick und Peeta herstolpere, mich weiterbewege, obwohl ich wahrscheinlich schon halb tot bin. Teile von mir sind tot oder jedenfalls im Begriff abzusterben. Und Mags ist tot. Immerhin das weiß ich, oder vielleicht glaube ich es auch nur zu wissen, denn das alles ist völlig widersinnig.
Mondlicht, das auf Finnicks bronzefarbenem Haar schimmert, brennend heiße Tropfen wie Nadelstiche, mein zu Holz gewordenes Bein. Ich gehe Finnick hinterher, bis er zusammenbricht, Peeta immer noch auf dem Rücken. Ich kann einfach nicht anhalten und laufe weiter, bis ich über ihre liegenden Körper stolpere und wir einen einzigen Haufen bilden. Jetzt werden wir alle sterben, genau so, denke ich. Doch das ist nur ein abstrakter Gedanke, weit weniger beängstigend als die Schmerzen in meinem Körper. Ich höre Finnick stöhnen und klettere irgendwie von den anderen herunter. Ich sehe die Nebelwand, die jetzt perlweiß aussieht. Vielleicht spielen meine Augen mir einen Streich, oder es liegt am Mondlicht, aber der Nebel scheint sich zu verwandeln. Ja, er wird dichter, als würde er gegen eine Glasscheibe gedrückt. Ich kneife die Augen zusammen und sehe, dass die Krallen nicht mehr da sind. Der Nebel hat aufgehört, sich vorwärtszubewegen. Wie andere Schrecken, die ich in der Arena gesehen habe, hat er die Grenze seines Gebiets erreicht. Entweder das - oder die Spielmacher haben beschlossen, uns jetzt noch nicht zu töten.
»Es hat aufgehört«, will ich sagen, doch aus meinem geschwollenen Mund kommt nur ein fürchterliches Krächzen. »Es hat aufgehört«, sage ich wieder, offenbar deutlicher, denn Peeta und Finnick schauen beide zum Nebel, der sich jetzt langsam hebt, als würde er von einem riesigen Staubsauger in den Himmel gesaugt. Wir schauen zu, bis alles weg ist, selbst der letzte Fetzen.
Peeta lässt sich von Finnick herunterrollen und der dreht sich auf den Rücken. Keuchend und zuckend liegen wir da, Geist und Körper vom Gift durchdrungen. Nach ein paar Minuten zeigt Peeta undeutlich nach oben. »A-hen.« Ich schaue nach oben und sehe zwei Tiere, vermutlich Affen. Ich habe noch nie einen lebendigen Affen gesehen - in unserem Wald zu Hause gibt es nichts dergleichen. Aber irgendwo muss ich schon mal einen Affen auf einem Bild gesehen haben oder vielleicht in einer früheren Ausgabe der Spiele, denn beim Anblick der Tiere kommt mir dasselbe Wort in den Sinn. Es ist schwer zu erkennen, aber ich glaube, diese hier haben orangefarbenes Fell und sind etwa halb so groß wie ein ausgewachsener Mensch. Ich nehme die Affen als gutes Zeichen. Bestimmt würden sie hier nicht herumspringen, wenn die Luft vergiftet wäre. Eine Weile beobachten wir einander stumm, Menschen und Affen. Dann rappelt Peeta sich auf die Knie und kriecht den Hügel hinunter. Wir kriechen alle, denn Gehen ist für uns so unmöglich wie Fliegen; wir kriechen, bis das Gestrüpp zu einem schmalen Streifen Sandstrand wird und das warme Wasser rings um das Füllhorn uns das Gesicht benetzt. Ich zucke zurück, als hätte ich eine offene Flamme berührt.
Salz in die Wunde streuen. Zum ersten Mal verstehe ich diese Redewendung voll und ganz, denn das Salzwasser in den Wunden tut so weh, dass ich fast ohnmächtig werde. Aber ich spüre noch etwas anderes - als würde etwas herausgezogen. Ich probiere es aus, indem ich erst nur eine Hand behutsam ins Wasser halte. Es ist qualvoll, ja, aber dann schon weniger. Durch die blaue Wasserschicht sehe ich, wie eine milchige Substanz aus den Wunden tritt. Und in dem Maß, in dem das Weiß schwächer wird, lässt auch der Schmerz nach. Ich schnalle den Gurt ab und ziehe den Overall aus, der kaum mehr ist als ein durchlöcherter Stofffetzen. Meine Schuhe und die Unterwäsche sind erstaunlicherweise unversehrt. Nach und nach, Stück für Stück und einen Körperteil nach dem anderen, wasche ich das Gift aus meinem Körper. Peeta scheint das Gleiche zu tun. Finnick dagegen ist bei der ersten Berührung mit dem Wasser zurück gezuckt und liegt jetzt mit dem Gesicht nach unten im Sand, unwillig oder unfähig, sich zu säubern.
Als ich das Schlimmste überstanden habe, die Augen unter Wasser geöffnet, Wasser in die Nebenhöhlen gezogen und ausgeschnäuzt und sogar mehrmals gegurgelt habe, um meine Kehle auszuwaschen, funktioniere ich so weit, dass ich Finnick helfen kann. Im Bein habe ich jetzt wieder ein bisschen Gefühl, aber meine Arme werden immer noch von Zuckungen geplagt. Ich kann Finnick nicht ins Wasser ziehen, vielleicht würde der Schmerz ihn sowieso umbringen. Also schöpfe ich mit zittrigen Händen Wasser und schütte es auf seine Fäuste. Da er nicht unter Wasser ist, tritt das Gift aus seiner Haut, wie es auch hineingekommen ist, in Nebelschwaden, vor denen ich mich sehr in Acht nehme. Peeta hat sich jetzt so weit erholt, dass er mir helfen kann. Er schneidet Finnick aus dem Overall heraus. Irgendwo findet er zwei Muscheln, mit denen man viel besser Wasser schöpfen kann als mit den Händen. Als Erstes nehmen wir uns Finnicks Arme vor, weil sie so schwer mitgenommen sind, und obwohl eine Menge weißes Zeug herauskommt, merkt er nichts. Er liegt einfach nur mit geschlossenen Augen da und stöhnt hin und wieder.
Ich schaue mich um, und mir wird zunehmend bewusst, in welch gefährlicher Lage wir uns befinden. Es ist zwar Nacht, doch der Mond spendet so viel Licht, dass wir leicht entdeckt werden können. Es ist reines Glück, dass uns noch niemand angegriffen hat. Wenn sie vom Füllhorn kämen, könnten wir sie zwar kommen sehen, aber alle vier Karrieros auf einmal würden uns leicht überwältigen. Und selbst wenn sie uns nicht direkt sehen, Finnicks Stöhnen würde uns bald verraten.