Finnicks Miene hellt sich auf: »Johanna!«, ruft er und rennt auf die roten Gestalten zu.
»Finnick!«, antwortet Johanna.
Ich tausche einen Blick mit Peeta. »Was nun?«, frage ich.
»Wir können Finnick nicht ziehen lassen«, sagt er.
»Wahrscheinlich nicht. Na, dann komm«, sage ich missmutig. Selbst wenn ich eine Liste mit möglichen Verbündeten hätte, Johanna Mason stünde bestimmt nicht darauf. Wir stapfen den Strand entlang dorthin, wo Finnick und Johanna sich gerade treffen. Als wir näher kommen, erkenne ich ihre Gefährten und bin verwirrt. Es sind Beetee und Wiress, der eine liegt rücklings auf dem Boden, die andere hat sich aufgerappelt und geht wieder im Kreis. »Sie hat Wiress und Beetee dabei.«
»Plus und Minus?«, fragt Peeta, gleichfalls erstaunt. »Wie mag es dazu gekommen sein?«
Als wir die anderen erreichen, deutet Johanna zum Dschungel und redet auf Finnick ein. »Wir dachten, es wäre Regen, weißt du, wegen der Blitze, und wir hatten alle solchen Durst. Aber als es herunterprasselte, merkten wir, dass es Blut war.
Dickes, heißes Blut. Man konnte nichts sehen, und man konnte nichts sagen, weil man es sonst schluckte. Wir sind herumgeirrt und haben einen Ausweg gesucht. Und dabei ist Blight in das Kraftfeld geraten.«
»Das tut mir leid, Johanna«, sagt Finnick. Es dauert einen Augenblick, bis ich Blight eingeordnet habe. Ich glaube, er war Johannas Mitspieler aus Distrikt 7, aber ich kann mich kaum an ihn erinnern. Wenn ich mich nicht irre, hat er sich nicht einmal beim Training blicken lassen.
»Ach, weißt du, er war keine große Hilfe, aber er war aus der Heimat«, sagt Johanna. »Und er hat mich mit den beiden da alleingelassen.« Mit dem Schuh stupst sie Beetee an, der kaum bei Bewusstsein ist. »Er hat am Füllhorn ein Messer in den Rücken gekriegt. Und die da …«
Wir schauen hinüber zu Wiress, die, mit getrocknetem Blut bedeckt, im Kreis herumirrt und die ganze Zeit »Tick, tack. Tick, tack« vor sich hin murmelt.
»Ja, wir haben’s gehört. Tick, tack. Plus hat einen Schock«, sagt Johanna. Das scheint Wiress anzulocken, sie torkelt gegen Johanna, die sie grob auf den Sand stößt. »Einfach unten bleiben, kapiert?«
»Lass sie in Ruhe!«, blaffe ich sie an.
Johannas Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen, durch die sie mich hasserfüllt anschaut. »Ich soll sie in Ruhe lassen?«, faucht sie. Ehe ich reagieren kann, macht sie einen Schritt nach vorn und langt mir eine, dass ich Sternchen sehe. »Was glaubst du eigentlich, wer sie für dich aus dem blutenden Dschungel rausgeholt hat, du …« Bevor sie weiterreden kann, schnappt Finnick sich Johanna, wirft sie trotz heftiger Gegenwehr über die Schulter und trägt sie ins Wasser. Dort taucht er sie mehrmals unter, während sie mir üble Beleidigungen an den Kopf schmeißt. Doch ich schieße nicht. Weil Finnick bei ihr ist und weil sie gesagt hat, dass sie Wiress und Beetee für mich rausgeholt hat.
»Was sollte das heißen, sie hat sie für mich da rausgeholt?«, frage ich Peeta.
»Ich weiß es nicht. Du wolltest die beiden doch als Verbündete«, sagt er.
»Stimmt. Wollte ich mal.« Aber das ist keine Erklärung. Ich schaue auf Beetees leblosen Körper. »Jedenfalls, lange werden sie nicht meine Verbündeten sein, wenn wir nicht bald was unternehmen.«
Peeta hebt Beetee hoch, ich nehme Wiress bei der Hand und wir gehen zurück zu unserem kleinen Strandlager. Ich setze Wiress ins flache Wasser, damit sie sich ein bisschen säubern kann, doch sie klatscht nur in die Hände und murmelt ab und zu »Tick, tack«. Ich löse Beetees Gürtel und entdecke, dass er mit Ranken einen schweren Metallgegenstand daran festgebunden hat. Ich kann nicht erkennen, was es ist, eine Art Spule vielleicht, doch wenn Beetee meinte, es retten zu müssen, dann werde ich es nicht einfach wegschmeißen. Ich binde die Spule los und werfe sie in den Sand. Die blutgetränkten Kleider kleben so an Beetees Körper, dass Peeta ihn ins Wasser tauchen muss, während ich sie löse. Als ich endlich den Overall ausgezogen bekomme, stellen wir fest, dass sich auch die Unterwäsche mit Blut vollgesogen hat. Wir haben keine Wahl, wir müssen ihn ganz ausziehen, aber ehrlich gesagt, lässt mich so etwas mittlerweile ziemlich kalt. Dieses Jahr haben zu viele nackte Männer auf unserem Küchentisch gelegen. Nach einer Weile gewöhnt man sich irgendwie dran.
Wir bauen Finnicks Sonnenschutz ab und legen Beetee bäuchlings darauf, damit wir seinen Rücken untersuchen können. Vom Schulterblatt bis unter die Rippen verläuft eine fünfzehn Zentimeter lange klaffende Wunde. Zum Glück ist sie nicht allzu tief. Aber er hat eine Menge Blut verloren - das erkennt man an der blassen Hautfarbe - und die Wunde eitert.
Ich hocke mich hin und versuche nachzudenken. Welche Hilfsmittel stehen mir zur Verfügung? Salzwasser? Die erste Maßnahme meiner Mutter war immer Schnee, wenn ich mich recht erinnere. Ich schaue hinüber zum Dschungel. Dort gäbe es bestimmt eine Menge Arzneien - wenn ich nur wüsste, wie man sie anwendet. Aber das sind nicht meine Pflanzen. Mir fällt das Moos ein, das Mags mir zum Naseputzen gegeben hat. »Bin gleich wieder da«, rufe ich Peeta zu. Zum Glück kommt das Zeug ziemlich häufig im Dschungel vor. Von den umstehenden Bäumen rupfe ich ein ordentliches Büschel ab und trage es zurück zum Strand. Ich forme ein dickes Polster, lege es auf Beetees Wunde und schnüre es mit Ranken an seinem Körper fest. Wir flößen ihm etwas Wasser ein und legen ihn dann in den Schatten am Rand des Dschungels.
»Ich fürchte, das ist alles, was wir für ihn tun können«, sage ich.
»Das reicht. Du bist gut im Verarzten«, sagt Peeta. »Es liegt dir im Blut.«
»Nein«, sage ich und schüttele den Kopf. »Ich habe das Blut meines Vaters.« Blut, das beim Jagen schneller fließt, nicht bei einer Epidemie. »Ich werde mal nach Wiress sehen.«
Ich gehe zu Wiress ins flache Wasser. Sie wehrt sich nicht, als ich sie ausziehe und mit einer Handvoll Moos das Blut abwasche. Doch ihre Augen sind schreckgeweitet, und als ich sie anspreche, antwortet sie nicht, sagt nur mit immer größerer Dringlichkeit »Tick, tack«. Offenbar versucht sie mir etwas damit zu sagen, aber ohne Beetee, der ihre Gedanken entschlüsselt, bin ich völlig aufgeschmissen.
»Ja, tick, tack. Tick, tack«, sage ich. Das scheint sie ein wenig zu beruhigen. Ich wasche ihren Overall aus, bis kaum noch etwas von dem Blut zu sehen ist, und helfe ihr, wieder hineinzuschlüpfen. Er ist nicht so beschädigt wie unsere. Ihr Gurt ist noch in Ordnung und ich binde ihn ihr um. Dann befestige ich ihre Unterwäsche mit einem Stein neben der von Beetee und lasse sie einweichen.
Unterdessen haben sich eine jetzt wieder blitzsaubere Johanna und ein sich schälender Finnick zu uns gesellt. Johanna trinkt hastig Wasser und schlingt Muschelfleisch herunter, und ich versuche, auch Wiress zu überreden, etwas zu essen. Finnick erzählt mit unbeteiligter, fast gefühlskalter Stimme von dem Nebel und den Affen, verschweigt aber das wichtigste Detail der Geschichte.
Alle bieten an, Wache zu halten, während die anderen sich ausruhen, doch schließlich fällt die Wahl auf Johanna und mich. Auf mich, weil ich tatsächlich ausgeruht bin, auf Johanna, weil sie sich um keinen Preis hinlegen will. Wir setzen uns ans Wasser und schweigen, bis die anderen eingeschlafen sind.
Johanna wirft Finnick einen Blick zu, um sicherzugehen, dass er wirklich schläft, und wendet sich dann an mich: »Wie habt ihr Mags verloren?«
»Im Nebel. Finnick hatte Peeta auf der Schulter, ich Mags. Irgendwann konnte ich nicht mehr. Finnick meinte, beide auf einmal könne er nicht tragen. Da gab sie ihm einen Kuss und ging geradewegs ins Gift«, sage ich.
»Du weißt ja wohl, dass sie Finnicks Mentorin war«, sagt Johanna anklagend.
»Nein, das wusste ich nicht«, erwidere ich.
»Sie gehörte fast zur Familie«, sagt Johanna nach einer kurzen Pause, schon etwas versöhnlicher.
Wir schauen zu, wie das Wasser über die Wäsche schwappt. »Und wie kommt’s, dass du Plus und Minus bei dir hast?«, frage ich.