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Keine Frage. Aus mir völlig unerklärlichen Gründen versuchen einige der anderen Sieger, Peeta das Leben zu retten, selbst wenn es bedeutet, dass sie ihr eigenes opfern müssen.

Ich bin wie vor den Kopf geschlagen. Zum einen ist das doch meine Aufgabe. Und zum anderen weiß ich überhaupt nicht, was das soll. Nur einer von uns kommt hier heraus. Wieso haben sie dann beschlossen, Peeta zu beschützen? Was mag Haymitch ihnen gesagt haben, was hat er zum Tausch angeboten, damit sie Peetas Leben über ihr eigenes stellen?

Ich kenne meine ganz persönlichen Gründe, weshalb ich will, dass Peeta überlebt. Er ist mein Freund, auf diese Weise biete ich dem Kapitol die Stirn, untergrabe ihre schrecklichen Spiele. Doch wenn mich nichts mit ihm verbinden würde, weshalb sollte ich ihn retten wollen, damit er überlebt und nicht ich? Er ist tapfer, sicher, aber alle anderen sind auch tapfer genug gewesen, ihre Spiele zu überleben. Er hat ein besonders gutes Herz, das ist kaum zu übersehen, aber trotzdem … und da endlich fällt mir ein, was Peeta so viel besser kann als wir anderen. Er kann mit Worten umgehen. In beiden Interviews hat er die Konkurrenz in Grund und Boden geredet. Und vielleicht liegt es an seinem guten Herzen, dass er durch seine Art zu reden eine Menschenmenge auf seine Seite ziehen kann. Ein ganzes Land.

Ich weiß noch, dass ich mal dachte, genau diese Gabe müsse der Führer unserer Revolution haben. Hat Haymitch die anderen davon überzeugt? Dass Peetas Zunge eine viel mächtigere Waffe gegen das Kapitol wäre als alle physische Stärke, die wir anderen geltend machen könnten? Ich weiß es nicht. Es erscheint mir immer noch ein sehr großer Sprung über den eigenen Schatten für einige der Tribute. Für Johanna Mason zum Beispiel. Doch welche andere Erklärung kann es für ihre entschlossenen Bemühungen, sein Leben zu retten, geben?

»Gibst du mir mal den Zapfhahn, Katniss?«, fragt Finnick und holt mich zurück in die Wirklichkeit. Ich schneide die Ranke durch, mit der ich den Hahn an meinem Gürtel befestigt habe, und reiche ihn Finnick.

In diesem Augenblick höre ich sie schreien. So voller Angst und Schmerz, dass mir das Blut in den Adern gefriert. Und so vertraut. Ich lasse den Hahn fallen, vergesse, wo ich bin und was vor mir liegt, ich weiß nur, dass ich zu ihr muss, sie beschützen. Wie wild geworden renne ich in den Dschungel hinein, der Stimme nach, achtlos gegenüber der Gefahr, breche durch Ranken und Geäst, durch alles, was mir den Weg zu ihr versperrt.

Den Weg zu meiner kleinen Schwester.

24

Wo ist sie? Was machen sie mit ihr? »Prim!«, schreie ich. »Prim!« Die Antwort ist nur ein weiterer gequälter Schrei. Wie ist sie hergekommen? Warum ist sie Teil der Spiele? »Prim!«

Zweige schneiden mir in Gesicht und Arme, Kriechpflanzen greifen nach meinen Füßen. Aber ich komme ihr näher. Immer näher. Bin ihr jetzt ganz nah. Der Schweiß rinnt mir übers Gesicht, sticht in die halb verheilten Säurewunden. In der feuchtwarmen, sauerstoffarmen Luft ringe ich nach Atem. Prim gibt einen Laut von sich, so ein verlorenes, endgültiges Geräusch, dass ich mir nicht vorstellen mag, was sie mit ihr gemacht haben.

»Prim!« Ich breche durch eine grüne Wand auf eine kleine Lichtung, und der Laut erklingt erneut, direkt über mir. Abrupt lege ich den Kopf in den Nacken. Hängt sie gefangen in den Bäumen? Verzweifelt suche ich das Geäst ab, aber ich kann nichts entdecken. »Prim?«, flehe ich. Ich höre sie, doch ich kann sie nicht sehen. Der nächste Klagelaut erklingt, klar wie eine Glocke, und da besteht kein Zweifel mehr. Er kommt aus dem Schnabel eines kleinen schwarzen Vogels mit einer Haube auf dem Kopf, der sich etwa drei Meter über mir auf einem Zweig niedergelassen hat. Und dann begreife ich.

Es ist ein Schnattertölpel.

Ich habe noch nie einen gesehen, ich hatte gedacht, es gäbe keine mehr. Ich lehne mich gegen einen Baumstamm, presse die Hand auf meine stechenden Seiten und betrachte ihn. Die Mutation, die Urversion, der Stammvater. Vor meinem inneren Auge lasse ich eine Spottdrossel erstehen, verschmelze sie mit einem Schnattertölpel und erkenne, wie aus den beiden mein Spotttölpel geworden ist. Nichts an dem Vogel verrät, dass er eine Mutation ist. Nichts außer der täuschend echten Imitation von Prims Stimme, die aus seinem Schnabel kommt. Mit einem Pfeil in die Kehle bringe ich ihn zum Schweigen. Der Vogel fällt zu Boden. Ich ziehe den Pfeil heraus und drehe dem Vogel den Hals um, sicherheitshalber. Dann schleudere ich das widerliche Ding in den Dschungel. Kein Hunger der Welt könnte mich in Versuchung führen, ihn zu essen.

Das war nicht real, sage ich mir. So wie letztes Jahr die mutierten Wölfe nicht die echten toten Tribute waren. Das ist nur ein sadistischer Trick der Spielmacher.

Finnick bricht auf die Lichtung, als ich gerade meinen Pfeil mit Moos abwische. »Katniss?«

»Alles in Ordnung. Ich bin okay«, sage ich, obwohl ich mich ganz und gar nicht okay fühle. »Ich dachte, ich hätte meine Schwester gehört, aber …« Ein durchdringender Schrei unterbricht mich. Diesmal ist es eine andere Stimme, nicht die von Prim, vielleicht von einer jungen Frau. Ich erkenne sie nicht. Doch auf Finnick macht sie unmittelbar Eindruck. Alle Farbe weicht aus seinem Gesicht und die Pupillen weiten sich vor Schreck. »Bleib hier, Finnick!«, rufe ich und strecke die Hand aus, um ihn zu beruhigen, doch er ist schon auf und davon. Losgestürzt auf der Suche nach dem Opfer, genauso kopflos wie ich, als ich Prim hinterherjagte. »Finnick!«, rufe ich, aber ich weiß, dass er nicht umkehren und warten wird, um sich eine vernünftige Erklärung anzuhören. Mir bleibt nur, mich an seine Fersen zu heften.

Er ist schnell, aber es ist nicht schwer, ihm zu folgen, denn er hinterlässt eine deutliche Bresche. Doch der Vogel ist gut einen halben Kilometer entfernt, meist geht es bergauf, und als ich Finnick endlich einhole, bin ich völlig außer Atem. Er läuft um einen riesigen Baum herum. Der Stamm ist über einen Meter dick, die ersten Äste beginnen in gut sieben Metern Höhe. Der Schrei der Frau kommt irgendwo aus dem Grün über uns, doch der Schnattertölpel ist gut versteckt. Auch Finnick schreit, immer und immer wieder: »Annie! Annie!« Er ist voller Panik, nicht ansprechbar, deshalb tue ich, was ich sowieso getan hätte. Ich besteige einen benachbarten Baum, suche, bis ich den Schnattertölpel ausfindig gemacht habe, und erledige ihn mit einem Pfeil. Er fällt Finnick direkt vor die Füße. Finnick hebt ihn auf, langsam dämmert es ihm, doch als ich mich herunterlasse und zu ihm gehe, sieht er noch verzweifelter aus.

»Alles in Ordnung, Finnick. Das ist nur ein Schnattertölpel. Sie spielen uns einen Streich«, sage ich. »Das ist nicht real. Es ist nicht deine … Annie.«

»Nein, es ist nicht Annie. Aber die Stimme gehörte ihr. Schnattertölpel imitieren, was sie hören. Woher haben sie diese Schreie, Katniss?«, fragt er.

Als mir klar wird, was das bedeutet, spüre ich, wie jetzt ich blass werde. »Finnick, du meinst doch nicht etwa, die …«

»Doch. Meine ich. Genau das denke ich«, sagt er.

Ich stelle mir Prim vor, in einem weißen Raum, an einem Tisch festgeschnallt, während maskierte Gestalten in langen Gewändern ihr diese Laute entlocken. Irgendwo foltern sie sie oder haben sie gefoltert, um an diese Laute zu kommen. Meine Knie geben nach und ich sinke zu Boden. Finnick will mir etwas sagen, doch ich kann ihn nicht verstehen. Dafür höre ich plötzlich einen Vogel, der irgendwo zu meiner Linken anfängt zu singen. Und diesmal gehört die Stimme Gale.

Ehe ich losrennen kann, packt Finnick mich am Arm. »Nein. Das ist er nicht.« Er zerrt mich bergab, zum Strand. »Wir müssen hier raus!« Doch Gales Stimme ist so voller Schmerz, dass ich versuche, mich loszureißen und zu ihm zu laufen. »Das ist nicht er, Katniss! Das ist eine Mutation!«, schreit Finnick mich an. »Los jetzt!« Halb schleift er mich, halb trägt er mich weiter, bis ich begreife, was er gesagt hat. Er hat recht, das ist nur ein Schnattertölpel. Gale hat nichts davon, wenn ich den Vogel töte. Trotzdem, es ist Gales Stimme, und irgendwer hat ihn irgendwo und irgendwann dazu gebracht, solche Laute auszustoßen.