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Aber ich wehre mich nicht mehr gegen Finnick. Wie in der Nacht mit dem Nebel fliehe ich vor etwas, gegen das ich nicht ankämpfen kann. Das mir nur Leid zufügen kann. Nur dass es diesmal mein Herz ist, das verätzt wird, und nicht mein Körper. Mit Sicherheit sind die Vögel eine weitere Waffe der Uhr. Vier Uhr, vermute ich mal. Wenn die Zeiger auf vier Uhr rücken, gehen die Affen nach Hause und die Schnattertölpel kommen hervor und spielen auf. Finnick hat recht: Wir müssen so schnell wie möglich raus hier. Nur dass Haymitch uns diesmal todsicher nichts per Fallschirm wird schicken können, das Finnick und mir hilft, diese Wunden zu heilen.

Am Dschungelrand stehen Peeta und Johanna, was mich erleichtert und zugleich wütend macht. Wieso ist Peeta mir nicht zu Hilfe gekommen? Wieso ist uns keiner gefolgt? Selbst jetzt noch zögert er, die Hände erhoben, die Handflächen uns zugewandt, die Lippen bewegen sich, doch die Worte erreichen uns nicht. Warum?

Die Wand ist so transparent, dass wir in vollem Lauf dagegenprallen und auf den Dschungelboden zurückgeschleudert werden. Ich habe Glück, meine Schulter hat den Aufprall weitgehend abgefangen. Aber Finnick ist mit dem Gesicht voll dagegengeknallt und jetzt schießt das Blut nur so aus seiner Nase. Deshalb also sind Peeta und Johanna und auch Beetee, der hinter ihnen traurig den Kopf schüttelt, uns nicht zu Hilfe gekommen. Eine unsichtbare Barriere versperrt den Zugang zum Strand. Kein Kraftfeld diesmal. Man kann die harte, glatte Oberfläche nach Belieben berühren. Doch weder Peetas Messer noch Johannas Axt vermag ihr auch nur einen Kratzer zuzufügen. Ich gehe ein paar Meter nach einer Seite und stelle fest, dass die Wand wohl den gesamten Sektor zwischen vier und fünf Uhr einschließt. Dass wir wie die Mäuse in der Falle sitzen, bis die Stunde vorbei ist.

Peeta presst die Hand gegen die Oberfläche, und ich halte meine dagegen, als könnte ich ihn durch die Wand hindurch spüren. Ich sehe, dass er die Lippen bewegt, doch ich kann ihn nicht hören, kann überhaupt nichts hören außerhalb unseres Segments. Ich versuche zu erraten, was er sagt, aber ich kann mich nicht konzentrieren, deshalb starre ich nur auf sein Gesicht und bemühe mich, meine fünf Sinne beisammenzuhalten.

Dann kommen die Vögel angeflogen. Einer nach dem anderen. Lassen sich auf den Ästen um uns herum nieder. Und aus ihren Schnäbeln ergießt sich ein sorgsam abgestimmter Chor des Grauens. Finnick kapituliert sofort, er sinkt zu Boden und presst die Hände auf die Ohren, als wollte er seinen Schädel zerquetschen. Eine Zeit lang versuche ich mich zu wehren. Ich verschieße den Inhalt meines Köchers auf die verhassten Vögel. Doch sobald einer tot herunterfällt, nimmt ein anderer seinen Platz ein. Schließlich gebe auch ich auf. Ich rolle mich neben Finnick zusammen und versuche die unerträglichen Schreie auszublenden, die Schreie von Prim, Gale, meiner Mutter, Madge, Rory, Vick und sogar Posy, der wehrlosen kleinen Posy …

Als ich Peetas Hand spüre, weiß ich, dass es vorbei ist. Ich merke, wie ich hochgehoben und aus dem Dschungel getragen werde. Trotzdem habe ich die Augen noch immer fest geschlossen, halte mir die Ohren zu, bleibe verkrampft und kann nicht lockerlassen. Peeta bettet mich in seinen Schoß, wiegt mich sanft und redet beruhigend auf mich ein. Es dauert lange, bis sich der eiserne Griff, in dem sich mein Körper befindet, lockert. Und da fange ich an zu zittern.

»Es ist alles gut, Katniss«, flüstert er.

»Du hast sie nicht gehört«, antworte ich.

»Ich hab Prim gehört. Gleich am Anfang. Aber das war nicht sie«, sagt er. »Es war ein Schnattertölpel.«

»Das war sie. Irgendwo. Der Schnattertölpel hat es sich nur gemerkt«, sage ich.

»Nein, sie wollen, dass du das denkst. So wie ich mich letztes Jahr gefragt habe, ob diese Mutation wirklich Glimmers Augen hatte. Aber es waren nicht Glimmers Augen. Und das hier war nicht Prims Stimme. Oder wenn doch, dann haben sie sie vielleicht aus einem Interview und den Klang verzerrt. Damit sie sich so anhörte, wie sie es wollten«, sagt er.

»Nein, sie haben sie gefoltert«, erwidere ich. »Wahrscheinlich ist sie tot.«

»Prim ist nicht tot, Katniss. Wie könnten sie Prim töten? Bald sind nur noch acht von uns übrig. Du weißt doch, was dann geschieht, oder?«, sagt Peeta.

»Sieben von uns werden sterben«, sage ich ohne Hoffnung.

»Nein, zu Hause, meine ich. Was geschieht, wenn nur noch acht Tribute dabei sind?« Er hebt mein Kinn hoch, sodass ich ihn ansehen muss. Zwingt mich, ihm in die Augen zu schauen. »Was geschieht dann? Bei den letzten acht?«

Ich weiß, dass er mir zu helfen versucht, also überlege ich. »Bei den letzten acht?«, wiederhole ich. »Sie interviewen unsere Familien und Freunde in der Heimat.«

»Stimmt genau«, sagt Peeta. »Sie interviewen unsere Familien und Freunde. Und wäre das möglich, wenn sie alle getötet hätten?«

»Nicht?«, frage ich, immer noch unsicher.

»Nein. Daher wissen wir, dass Prim noch lebt. Sie wird ja wohl die Erste sein, die sie interviewen, oder?«, sagt er.

Ich möchte ihm glauben. Unbedingt. Es ist nur … diese Stimmen …

»Erst Prim. Dann deine Mutter. Deinen Cousin, Gale. Madge«, fährt er fort. »Es war ein Trick, Katniss. Ein grausamer Trick. Aber nur wir können dadurch verletzt werden. Wir sind in den Spielen. Nicht sie.«

»Glaubst du wirklich?«, frage ich.

»Ja, das glaube ich wirklich«, sagt Peeta. Ich schwanke, ich denke daran, dass Peeta die Menschen dazu bringen kann, alles zu glauben. Ich schaue zu Finnick hinüber und warte auf eine Bestätigung, sehe, dass er Peetas Worten gebannt lauscht. »Glaubst du das, Finnick?«, frage ich.

»Möglich wär’s. Ich weiß nicht«, sagt er. »Könnten sie das, Beetee? Die echte Stimme von jemandem nehmen und sie so verändern, dass sie …«

»Aber ja. Das ist gar nicht mal so schwer, Finnick. Bei uns lernen die Kinder so was in der Schule«, sagt Beetee.

»Natürlich hat Peeta recht«, sagt Johanna im Brustton der Überzeugung. »Das ganze Land vergöttert Katniss’ kleine Schwester. Wenn sie sie wirklich auf diese Weise getötet hätten, dann hätten sie wahrscheinlich einen Aufstand am Hals. Und das wollen sie doch nicht, was?« Sie wirft ihren Kopf zurück und schreit. »Das ganze Land in Aufruhr? Das würden sie bestimmt nicht wollen!«

Mir bleibt der Mund offen stehen, so geschockt bin ich. Niemand spricht so etwas in den Spielen aus. Nie. Todsicher haben sie Johanna ausgeblendet und schneiden sie jetzt eilig heraus. Doch ich habe sie gehört und ich werde nie mehr so über sie denken können wie bisher. Einen Preis für Freundlichkeit wird sie niemals bekommen, aber mutig ist sie auf jeden Fall. Oder verrückt. Sie hebt ein paar Muschelschalen auf, sagt: »Ich geh mal Wasser holen«, und macht sich auf den Weg in den Dschungel.

Als sie an mir vorübergeht, greife ich unwillkürlich nach ihrer Hand. »Geh nicht da rein. Die Vögel …« Die Vögel müssen zwar verschwunden sein, aber ich möchte trotzdem nicht, dass wieder jemand hineingeht. Nicht mal sie.

»Die können mir nichts anhaben. Ich bin nicht wie ihr. Von meinen Lieben ist keiner mehr da«, sagt Johanna und schüttelt mich ungeduldig ab. Als sie zurückkommt und mir eine Muschelschale voll Wasser reicht, nicke ich zum Dank, sage aber nichts, denn ich weiß, dass sie für das Mitleid in meiner Stimme nur Verachtung übrig hätte.

Während Johanna Wasser und meine Pfeile holt, fummelt Beetee an seinem Draht herum, und Finnick macht sich auf den Weg ans Ufer. Ich müsste mich auch mal waschen, aber ich bleibe in Peetas Armen, ich bin noch immer zu aufgewühlt, um mich zu bewegen.

»Wen haben sie auf Finnick angesetzt?«, fragt er.