»Jemanden namens Annie«, sage ich.
»Das muss Annie Cresta sein«, sagt er.
»Wer?«, frage ich.
»Annie Cresta. Das Mädchen, an deren Stelle Mags sich freiwillig gemeldet hat. Sie hat vor fünf oder sechs Jahren gewonnen«, sagt Peeta.
Das müsste dann der Sommer nach dem Tod meines Vaters gewesen sein, als ich begann, meine Familie zu ernähren, als meine ganze Existenz damit ausgefüllt war, gegen den Hunger zu kämpfen. »An diese Spiele kann ich mich kaum erinnern«, sage ich. »War das das Jahr mit dem Erdbeben?«
»Ja. Annie ist durchgedreht, als ihr Distriktpartner enthauptet wurde. Rannte allein los und versteckte sich. Doch bei dem Erdbeben brach ein Damm und der größte Teil der Arena wurde überflutet. Sie gewann, weil sie am besten schwimmen konnte«, sagt Peeta.
»Hat sich ihr Zustand seitdem gebessert?«, frage ich. »Ihr Geisteszustand, meine ich.«
»Ich weiß nicht. Ich kann mich nicht erinnern, sie jemals noch bei den Spielen gesehen zu haben. Aber bei der Ernte neulich wirkte sie nicht gerade stabil.«
Das also ist die Frau, die Finnick liebt, denke ich. Nicht die schicken Mätressen im Kapitol. Sondern ein armes, verrücktes Mädchen in der Heimat.
Eine Kanone ertönt und wir laufen alle am Strand zusammen. Ein Hovercraft erscheint dort, wo wir den Sechs-bis-sieben-Sektor vermuten. Wir schauen zu, wie der Greifer fünfmal herunterfährt, um die verschiedenen Teile eines zerfetzten Körpers aufzusammeln. Unmöglich zu erkennen, um wen es sich handelt. Was immer um sechs in diesem Sektor passiert, ich möchte es nie erfahren.
Auf einem Blatt zeichnet Peeta eine neue Karte und fügt im Vier-bis-fünf-Feld ST für Schnattertölpel ein, und in das Feld, wo gerade die Einzelteile des Tributs eingesammelt wurden, schreibt er einfach nur Bestie. Von sieben Stunden der Uhr haben wir jetzt eine recht genaue Vorstellung. Und wenn der Angriff der Schnattertölpel irgendetwas Gutes hat, dann dass wir wieder wissen, an welcher Stelle der Uhr wir uns befinden.
Finnick flicht einen neuen Wasserkorb und knüpft ein Netz zum Fischen. Ich schwimme ein bisschen und reibe meine Haut mit Salbe ein. Dann setze ich mich ans Ufer, säubere die Fische, die Finnick fängt, und schaue zu, wie die Sonne hinter dem Horizont versinkt. Der helle Mond geht bereits auf und taucht die Arena in dieses seltsame Zwielicht. Wir wollen uns gerade zu unserem Mahl aus rohem Fisch niederlassen, als die Hymne erklingt. Dann erscheinen die Gesichter …
Cashmere. Gloss. Wiress. Mags. Die Frau aus Distrikt 5. Die Morfixerin, die sich für Peeta geopfert hat. Blight. Der Mann aus Distrikt 10.
Acht tot. Plus die acht vom ersten Abend. Innerhalb von anderthalb Tagen sind zwei Drittel von uns gestorben. Das dürfte Rekord sein.
»Die verheizen uns ja regelrecht«, sagt Johanna.
»Wer ist noch übrig? Abgesehen von uns fünf und den beiden aus Distrikt 2?«, fragt Finnick.
»Chaff«, sagt Peeta, ohne darüber nachdenken zu müssen. Vielleicht hat er nach ihm Ausschau gehalten, wegen Haymitch.
Ein Fallschirm mit einem Stapel mundgerechter viereckiger Brötchen segelt herab. »Die sind aus deinem Distrikt, stimmt’s, Beetee?«, fragt Peeta.
»Ja, aus Distrikt 3«, sagt er. »Wie viele sind es?«
Finnick zählt sie, wobei er jedes Einzelne in den Händen dreht und wendet, bevor er sie nach einem bestimmten Muster anordnet. Keine Ahnung, was Finnick mit Brot hat, aber irgendwie scheint er davon besessen zu sein. »Vierundzwanzig«, sagt er.
»Genau zwei Dutzend also?«, fragt Beetee. »Exakt vierundzwanzig«, sagt Finnick. »Wie sollen wir sie teilen?«
»Jeder isst drei, und wer beim Frühstück noch am Leben ist, kann über den Rest bestimmen«, sagt Johanna. Ich weiß nicht, warum ich darüber kichern muss. Wahrscheinlich, weil es aufrichtig ist. Johanna wirft mir einen fast anerkennenden Blick zu. Nein, nicht anerkennend. Aber leicht erfreut vielleicht.
Wir warten, bis die Riesenwelle den Zehn-bis-elf-Sektor überrollt hat und das Wasser zurückgewichen ist, dann gehen wir an den Strand dort, um unser Lager aufzuschlagen. Theoretisch mussten wir jetzt zwölf Stunden vor dem Dschungel in Sicherheit sein. Aus dem Elf-bis-zwölf-Sektor kommt ein unangenehmer Chor aus Klicklauten, wahrscheinlich irgendeine üble Insektenart. Doch was dieses Geräusch auch verursachen mag, es bleibt innerhalb des Dschungels, und wir meiden diesen Teil des Strandes, falls die Viecher doch nur auf einen unvorsichtigen Schritt warten, um auszuschwärmen.
Ich begreife nicht, wie Johanna sich noch auf den Beinen halten kann. Seit Beginn der Spiele hat sie nur eine Stunde geschlafen. Peeta und ich melden uns freiwillig für die erste Wache, weil wir ausgeruhter sind und weil wir ein bisschen Zeit für uns haben möchten. Die anderen schlafen sofort tief und fest. Nur Finnicks Schlaf ist unruhig, ab und zu höre ich, wie er Annies Namen flüstert.
Peeta und ich setzen uns nebeneinander, aber voneinander abgewandt auf den feuchten Sand, meine rechte Schulter und Hüfte berühren seine. Er schaut auf den Dschungel und ich aufs Wasser, was mir guttut. Die Stimmen der Schnattertölpel verfolgen mich noch immer und die Insekten können das nicht übertönen. Nach einer Weile lehne ich den Kopf gegen Peetas Schulter. Er streicht mir über das Haar.
»Katniss«, sagt er sanft, »es hat keinen Sinn, so zu tun, als wussten wir nicht, was der andere vorhat.« Nein, wahrscheinlich nicht. Aber darüber reden ist auch nicht gerade angenehm. Zumindest nicht für uns. Dafür werden die Zuschauer im Kapitol jetzt an ihren Geräten kleben, um nur ja kein Wort zu verpassen.
»Ich weiß nicht, was für einen Deal du mit Haymitch gemacht zu haben glaubst, aber du sollst wissen, dass er mir auch Versprechungen gemacht hat.« Natürlich, das weiß ich selbst. Er hat Peeta eingeflüstert, sie könnten irgendwie mein Leben retten, damit er keinen Verdacht schöpft. »Wir können daher davon ausgehen, dass er einen von uns angelogen hat.«
Jetzt horche ich auf. Ein Doppeldeal. Ein doppeltes Versprechen. Und nur Haymitch weiß, welches ernst gemeint ist. Ich hebe den Kopf und begegne Peetas Blick. »Warum fängst du ausgerechnet jetzt davon an?«
»Weil du nicht vergessen sollst, dass ich in einer ganz anderen Lage bin als du. Wenn du stirbst und ich überlebe, gibt es für mich zu Hause in Distrikt 12 keinen Grund zum Weiterleben mehr. Du bist mein ganzes Leben. Ich könnte nie mehr glücklich sein.« Ich versuche zu widersprechen, doch er legt mir einen Finger auf die Lippen. »Für dich ist das anders. Ich sage nicht, dass es nicht hart wäre für dich. Aber du hast andere Menschen, für die es sich lohnen würde weiterzuleben.«
Peeta zieht die Kette mit dem flachen Goldanhänger an seinem Hals hervor. Er hält sie ins Mondlicht, sodass ich den Spotttölpel deutlich sehen kann. Dann fährt er mit dem Daumen über einen Verschluss, der mir bisher nicht aufgefallen ist, und ein Deckel springt auf. Der Anhänger ist nicht massiv, wie ich dachte, er ist ein Medaillon. Mit Fotos darin. Rechts meine Mutter und Prim, beide lachend. Links Gale. Tatsächlich lächelnd.
Nichts auf der Welt könnte mich in diesem Augenblick mürber machen als diese drei Gesichter. Nach allem, was ich heute Nachmittag mit anhören musste … ist das die perfekte Waffe.
»Deine Familie braucht dich, Katniss«, sagt Peeta.
Meine Familie. Meine Mutter. Meine Schwester. Und Gale, mein angeblicher Cousin. Es ist offensichtlich, was Peeta damit sagen will. Gale ist Teil meiner Familie, oder er wird es sein, falls ich überlebe. Ich werde ihn heiraten. Peeta schenkt mir also sein Leben und Gale obendrein. Damit ich weiß, dass ich daran nie zweifeln soll. Alles soll ich von Peeta nehmen.
Ich erwarte eigentlich, dass er das Baby erwähnt, für die Kameras, doch er schweigt. Und da wird mir bewusst, dass das hier nichts mit den Spielen zu tun hat. Dass er mir seine wahren Gefühle offenbart.
»Mich braucht eigentlich keiner«, sagt er, ganz ohne Selbstmitleid. Es stimmt, seine Familie braucht ihn nicht. Sie werden ihn beweinen, zusammen mit ein paar Freunden, die man an einer Hand abzählen kann. Aber sie werden darüber hinwegkommen. Wie auch Haymitch, mithilfe einer Menge klarem Schnaps. Nur ein einziger Mensch würde unwiderruflich Schaden nehmen, wenn Peeta stirbt. Ich.