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Mit Gale bin ich nie zu dem See gegangen. Ich hätte es tun können. Es ist ein langer Weg dorthin, aber die Wasservögel sind so leichte Beute, dass man die verlorene Jagdzeit wieder wettmacht. Doch ich wollte den Ort mit niemandem teilen, den Ort, der nur meinem Vater und mir gehörte. Nach den Spielen, als ich wenig zu tun hatte, war ich ein paarmal da. Es war immer noch schön, dort zu schwimmen, aber die Ausflüge haben mich eher deprimiert. Der See hat sich in den letzten sechs Jahren erstaunlich wenig verändert, während ich kaum wiederzuerkennen bin.

Selbst unter Wasser höre ich den Tumult. Autohupen, laute Begrüßungen, Türenknallen. Das kann nur bedeuten, dass meine Begleiter eingetroffen sind. Ich habe gerade noch Zeit, mich abzutrocknen und einen Bademantel überzuziehen, bevor mein Vorbereitungsteam ins Badezimmer platzt. Eine Intimsphäre gibt es nicht. Was meinen Körper angeht, haben wir keine Geheimnisse voreinander, die drei und ich.

»Katniss, deine Augenbrauen!«, kreischt Venia sofort, und trotz des Unheils, das über mir schwebt, muss ich ein Lachen unterdrücken. Ihre blauen Haare stehen in spitzen Zacken vom Kopf ab, und ihre goldenen Tattoos, bisher nur über den Augenbrauen, schlängeln sich jetzt bis unter die Augen. All das verstärkt den Eindruck, dass ich sie wirklich erschreckt habe.

Octavia kommt und klopft Venia beruhigend auf den Rücken, ihr kurvenreicher Körper wirkt neben Venias dünnem, eckigem besonders füllig. »Na, na. Die kriegst du doch im Nu wieder hin. Aber was soll ich bloß mit diesen Nägeln anstellen?« Sie packt meine Finger und drückt sie zwischen ihren erbsgrünen Händen ganz platt. Nein, ihre Haut ist im Moment nicht richtig erbsgrün. Eher von einem hellen Immergrün. Bestimmt ist das im Kapitol gerade die neueste Mode. »Katniss, du hättest mir wirklich ein wenig Material übrig lassen können!«, jammert sie.

Sie hat recht. In den letzten Monaten habe ich meine Nägel völlig heruntergekaut. Ich hatte überlegt, es mir abzugewöhnen, aber mir fiel kein vernünftiger Grund ein. »Tut mir leid«, murmele ich. Darüber, was das für mein Vorbereitungsteam bedeuten würde, habe ich nicht groß nachgedacht.

Flavius hebt ein paar Strähnen meiner nassen, wirren Haare hoch. Er schüttelt missbilligend den Kopf, sodass seine orangefarbenen Korkenzieherlocken wippen. »Hat irgendjemand diese Haare berührt, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben?«, fragt er streng. »Du weißt doch, wir haben dich vor allem gebeten, deine Haare in Ruhe zu lassen.«

»Ja!«, sage ich, dankbar, ihnen zeigen zu können, dass ich nicht völlig achtlos war. »Ich meine, nein, keiner hat sie geschnitten. Daran hab ich gedacht.« Nein, habe ich nicht. Die Frage hatte sich gar nicht gestellt. Seit ich zurück war, habe ich sie einfach, wie eh und je, zu einem Zopf geflochten.

Das scheint sie zu besänftigen, und sie küssen mich alle, setzen mich in meinem Schlafzimmer auf einen Stuhl, und dann plappern sie, wie üblich, unaufhörlich, ohne sich darum zu scheren, ob ich zuhöre. Während Venia meine Augenbrauen wieder in Form bringt, Octavia mir künstliche Fingernägel verpasst und Flavius irgendein Zeug in meine Haare massiert, erfahre ich alles über das Kapitol. Wie toll die Spiele waren, wie öde es seitdem ist, dass sie es alle gar nicht erwarten können, bis Peeta und ich am Ende der Tour der Sieger wieder vorbeikommen. Danach wird es nicht mehr lange dauern, bis sich das Kapitol auf das Jubel-Jubiläum vorbereitet.

»Ist das nicht spannend?«

»Hast du nicht ein unverschämtes Glück?«

»In deinem allerersten Jahr als Siegerin darfst du schon Mentorin bei einem Jubel-Jubiläum sein!«

In der allgemeinen Aufregung überschneiden sich ihre Worte.

»Doch, ja«, sage ich ausdruckslos. Mehr bringe ich nicht zustande. Schon in einem gewöhnlichen Jahr ist es ein Albtraum, Mentor der Tribute zu sein. Ich kann nicht mehr an der Schule vorbeigehen, ohne mich zu fragen, wen ich wohl betreuen muss. Aber zu allem Übel ist dies das Jahr der fünfundsiebzigsten Hungerspiele und damit ein Jubel-Jubiläum. Alle fünfundzwanzig Jahre ist es so weit, dann wird die Niederlage der Distrikte ganz besonders großartig gefeiert, und als besonderer Spaß wartet noch eine spezielle Grausamkeit auf die Tribute. Natürlich habe ich das noch nie miterlebt. Doch in der Schule habe ich mal gehört, dass das Kapitol zum zweiten Jubel-Jubiläum die doppelte Anzahl Tribute in die Arena geschickt hat. Die Lehrer haben das Thema nicht weiter vertieft, was erstaunlich ist, schließlich machte in dem Jahr Haymitch Abernathy aus unserem Distrikt 12 das Rennen.

»Haymitch kann sich schon mal darauf gefasst machen, dass er so richtig im Mittelpunkt stehen wird«, kreischt Octavia.

Haymitch hat mir gegenüber noch nie von seiner eigenen Zeit in der Arena gesprochen. Ich würde ihn auch nie danach fragen. Und falls ich seine Spiele je als Wiederholung gesehen habe, war ich wohl noch zu klein, um mich daran zu erinnern. Aber dieses Jahr wird das Kapitol ihn am Vergessen hindern. Im Grunde ist es ganz gut, dass Peeta und ich bei dem Jubiläum als Mentoren zur Verfügung stehen, denn Haymitch wird garantiert sturzbetrunken sein.

Nachdem sie sich hinreichend über das Jubel-Jubiläum ausgelassen haben, tauschen sie sich endlos lange über ihr unsäglich belangloses Leben aus. Wer was über wen auch immer gesagt hat, was für Schuhe sie gerade gekauft haben und dann noch eine lange Geschichte von Octavia darüber, was für ein Fehler es gewesen sei, dass die Gäste auf ihrer Geburtstagsfeier Federschmuck tragen sollten.

Schon bald brennt die Haut unter meinen Augenbrauen, meine Haare sind glatt und seidig und meine Nägel bereit für den Lack. Anscheinend ist das Team angewiesen, nur meine Hände und mein Gesicht zu behandeln, alles andere wird bei dem kalten Wetter wohl bedeckt sein. Flavius würde zu gern sein eigenes Markenzeichen, lila Lippenstift, bei mir anwenden, gibt sich dann aber doch mit Rosa zufrieden. An der Farbpalette, die Cinna festgelegt hat, sehe ich, dass wir auf mädchenhaft machen, nicht auf sexy. Gut so. Wenn ich versuchen müsste, aufreizend auszusehen, würde ich nie jemanden von irgendetwas überzeugen. Das hat Haymitch sehr deutlich gemacht, als er mich nach den Spielen für das Interview vorbereitet hat.

Meine Mutter kommt herein, ein wenig schüchtern, und sagt, Cinna habe sie gebeten, dem Vorbereitungsteam zu zeigen, wie sie mir am Tag der Ernte das Haar frisiert hat. Sie sind begeistert und schauen fasziniert zu, wie meine Mutter die komplizierte Frisur genau erklärt. Im Spiegel sehe ich, wie sie mit ernstem Gesicht jede ihrer Bewegungen verfolgen und wie eifrig sie bei der Sache sind, als sie es selbst probieren dürfen. Alle drei behandeln meine Mutter respektvoll und freundlich, und jetzt schäme ich mich dafür, dass ich mich ihnen immer so überlegen fühle. Wer weiß, wie ich wäre oder worüber ich reden würde, wenn ich im Kapitol aufgewachsen wäre? Vielleicht hätte ich dann auch nichts Schlimmeres zu bereuen, als dass die Gäste zu meiner Geburtstagsfeier in Federkostümen gekommen sind.

Als meine Frisur fertig ist, gehe ich hinunter ins Wohnzimmer, wo ich Cinna treffe. Sein bloßer Anblick stimmt mich ein wenig hoffnungsfroher. Er sieht aus wie immer, einfache Kleider, kurze braune Haare, nur ein Hauch goldener Eyeliner. Wir umarmen uns und um ein Haar wäre ich mit der Geschichte über Präsident Snow herausgeplatzt. Aber nein, ich habe beschlossen, es zuerst Haymitch zu erzählen. Er wird am besten wissen, wen ich damit belasten kann. Aber es ist so leicht, mit Cinna zu reden. In letzter Zeit haben wir oft telefoniert, denn mit dem Haus haben wir gleichzeitig auch ein Telefon bekommen. Es ist eigentlich ein Witz, weil praktisch niemand, den wir kennen, eins besitzt. Peeta ja, aber ihn rufe ich natürlich nicht an. Haymitch hat seins schon vor Jahren aus der Wand gerissen. Meine Freundin Madge, die Tochter des Bürgermeisters, hat zu Hause ein Telefon, aber wenn wir uns unterhalten wollen, tun wir das persönlich. Am Anfang wurde das Ding fast gar nicht benutzt. Dann rief Cinna regelmäßig an, um an meinem Talent zu arbeiten.