»Weil ihr beide die Ersten gewesen wärt, die sie zu fangen versucht hätten, nachdem das Kraftfeld in die Luft gegangen wäre. Es war besser, ihr wusstet so wenig wie möglich«, sagt Haymitch.
»Die Ersten? Warum?« Ich versuche seinem Gedankengang zu folgen.
»Aus dem gleichen Grund, aus dem wir anderen einwilligten zu sterben, damit ihr am Leben bleibt«, sagt Finnick.
»Stimmt nicht. Johanna hat versucht, mich zu töten«, sage ich.
»Johanna hat dich k.o. geschlagen, um den Aufspürer aus deinem Arm herauszuschneiden und Brutus und Enobaria von dir abzulenken«, sagt Haymitch.
»Was?« Mein Kopf tut unheimlich weh, sie sollen aufhören, so viel sinnloses Zeug zu reden. »Was willst du damit …«
»Wir mussten dich retten, weil du der Spotttölpel bist, Katniss«, sagt Plutarch. »Solange du lebst, lebt die Revolution.«
Der Vogel, die Brosche, das Lied, die Beeren, die Uhr, der Kräcker, das Kleid, das in Flammen aufgeht. Ich bin der Spotttölpel. Die, die den Plänen des Kapitols zum Trotz überlebt. Das Symbol der Rebellion.
Das war es, was ich vermutet hatte, als ich Bonnie und Twill auf der Flucht im Wald traf. Obwohl ich die Größenordnung nie richtig begriffen habe. Aber das sollte ich ja auch gar nicht. Mir fällt ein, wie Haymitch meinen Plan, aus Distrikt 12 zu fliehen und meinen eigenen Aufstand zu machen, und die bloße Idee, Distrikt 13 könne existieren, verspottet hat. Nichts als List und Täuschung. Wenn er das hinter seiner Maske aus Sarkasmus und Trunkenheit so überzeugend und lange tun konnte, worüber hat er dann noch gelogen? Ich weiß, worüber.
»Peeta«, flüstere ich, und das Herz rutscht mir in die Hose.
»Die anderen haben Peeta gerettet, weil wir wussten, dass du das Bündnis aufgekündigt hättest, wenn er gestorben wäre«, sagt Haymitch. »Und wir konnten nicht das Risiko eingehen, dich ohne Schutz zu lassen.« Seine Worte sind sachlich, seine Miene ist unverändert, nur die Graufärbung im Gesicht kann er nicht verbergen.
»Wo ist Peeta?«, fauche ich ihn an.
»Er wurde zusammen mit Johanna und Enobaria vom Kapitol geschnappt«, sagt Haymitch. Endlich hat er den Takt, seinen Blick zu senken.
Objektiv gesehen bin ich unbewaffnet. Aber man sollte nicht unterschätzen, welchen Schaden man mit Fingernägeln anrichten kann, besonders wenn das Opfer nicht darauf vorbereitet ist. Mit einem Satz springe ich über den Tisch und grabe meine Nägel in Haymitchs Gesicht, Blut quillt hervor, und ein Auge wird verletzt. Dann schreien wir einander schreckliche, wirklich schreckliche Dinge entgegen, während Finnick versucht, mich fortzuzerren, und ich weiß, dass Haymitch seinen ganzen Willen aufbringen muss, um mich nicht in Stücke zu reißen, doch ich bin der Spotttölpel. Ich bin der Spotttölpel, und es ist so schon schwer genug, mein Leben zu retten.
Andere Hände kommen Finnick zu Hilfe, und kurz darauf liege ich wieder auf meinem Tisch, den Körper festgeschnallt, die Handgelenke festgebunden, und deshalb schlage ich vor Wut immer und immer wieder mit dem Kopf gegen den Tisch. Eine Nadel bohrt sich in meinen Arm, und mein Kopf tut so weh, dass ich aufgebe und nur noch entsetzlich vor mich hin jaule, wie ein sterbendes Tier, bis meine Stimme versagt.
Das Beruhigungsmittel zeigt Wirkung, doch ich schlafe nicht, ich dämmere vor mich hin, bin für immer - oder so kommt es mir vor - gefangen in einem verschwommenen, dumpf schmerzenden Elend. Sie stecken mir wieder ihre Schläuche in den Arm und sprechen beruhigend auf mich ein, doch ihre Stimmen erreichen mich nicht. Ich kann nur an Peeta denken, der irgendwo auf einem ähnlichen Tisch liegt, während sie versuchen, seinen Willen zu brechen und Informationen aus ihm herauszupressen, die er gar nicht hat.
»Katniss. Katniss, es tut mir leid.« Finnicks Stimme kommt von dem Bett neben mir und schiebt sich in mein Bewusstsein. Vielleicht, weil wir einen ähnlichen Schmerz empfinden. »Ich wollte zurück und ihn und Johanna holen, aber ich konnte mich nicht bewegen.«
Ich gebe keine Antwort. Finnicks gute Absichten haben keinerlei Bedeutung.
»Er ist besser dran als Johanna. Die werden bald merken, dass er nichts weiß. Und sie werden ihn nicht töten, solange sie denken, sie können ihn gegen dich einsetzen«, sagt Finnick.
»Als Köder?«, sage ich zur Zimmerdecke. »So, wie sie Annie als Köder benutzen werden, Finnick?«
Ich höre ihn weinen, aber das ist mir egal. Wahrscheinlich werden sie sie nicht mal befragen, sie ist schon zu weit abgedriftet. Seit damals bei ihren Spielen. Sehr gut möglich, dass ich auf dem gleichen Weg bin. Vielleicht bin ich schon dabei, verrückt zu werden, und keiner hat den Mut, es mir zu sagen. Verrückt genug fühle ich mich.
»Wenn sie doch nur tot wäre«, sagt er. »Wenn sie alle tot wären und wir auch. Das wäre das Beste.«
Tja, darauf weiß ich keine Antwort. Ich kann es auch schlecht bestreiten, schließlich bin ich eben noch mit einer Spritze rumgerannt, um Peeta zu töten. Will ich wirklich, dass er tot ist? Am liebsten … am liebsten hätte ich ihn wieder. Aber ich werde ihn nie mehr wiederhaben. Selbst wenn die Rebellentruppen das Kapitol irgendwie stürzen könnten, wäre es garantiert Präsident Snows letzte Tat, Peeta die Kehle durchzuschneiden. Nein. Ich werde ihn nie mehr zurückbekommen. Also ist tot das Beste.
Weiß Peeta das oder wird er weiterkämpfen? Er ist so stark und kann so gut lügen. Ob er glaubt, dass er eine Chance hat? Bedeutet ihm das Überleben überhaupt etwas? Er hat sowieso nicht damit gerechnet. Er hatte schon mit dem Leben abgeschlossen. Wenn er erfährt, dass ich gerettet wurde, ist er vielleicht sogar glücklich. Dann weiß er, dass er seine Mission, mir das Leben zu retten, erfüllt hat.
Ich glaube, ich hasse ihn noch mehr als Haymitch.
Ich gebe auf. Sage nichts mehr, antworte nicht mehr, verweigere Nahrung und Wasser. Sollen sie mir doch in den Arm pumpen, was sie wollen, es braucht mehr als das, um einen Menschen am Leben zu erhalten, wenn er erst einmal den Lebenswillen verloren hat. Mir kommt sogar ein lustiger Gedanke. Denn falls ich sterben sollte, darf Peeta vielleicht weiterleben. Nicht als freier Mensch, aber als Avox oder so, der die zukünftigen Tribute aus Distrikt 12 bedient. Vielleicht findet er dann eines Tages eine Möglichkeit zu fliehen. Mein Tod könnte ihn noch immer retten.
Und wenn nicht, ist es auch egal. Es gibt genug Gründe zu sterben. Um Haymitch zu bestrafen, der von allen Menschen in dieser verfaulenden Welt Peeta und mich zu Figuren in seinen Spielchen auserkoren hat. Ich habe ihm vertraut. Ich habe alles, was wertvoll war, in Haymitchs Hände gelegt. Und er hat mich verraten.
Jetzt weißt du, warum keiner dich mit der Planung betraut, hat er gesagt.
Das stimmt. Niemand, der bei Verstand ist, würde mich mit der Planung betrauen. Denn offensichtlich kann ich Freund und Feind nicht unterscheiden.
Viele Leute kommen vorbei und wollen mit mir reden, aber ich lasse ihre Worte einfach so klingen wie das Klicken der Insekten im Dschungel. Bedeutungslos und fern. Gefährlich, aber nur von Nahem. Immer, wenn die Wörter verständlich werden, stöhne ich, bis sie mir noch mehr Schmerzmittel geben und alles wieder in Ordnung kommt.
Bis ich auf einmal die Augen öffne und jemand zu mir herunterschaut, den ich nicht ausblenden kann. Jemand, der nicht drängt oder erklärt oder denkt, er könnte mich durch Beschwörungen von meinem Vorhaben abbringen, weil nur er allein wirklich weiß, worauf ich anspreche.
»Gale«, flüstere ich.
»Hallo, Kätzchen.« Er streckt die Hand aus und streicht mir eine Haarsträhne aus den Augen. Auf einer Seite des Gesichts hat er eine frische Brandnarbe. Sein Arm steckt in einer Schlinge und unter dem Bergarbeiterhemd erkenne ich einen Verband. Was ist ihm zugestoßen? Wie kommt er überhaupt hierher? Zu Hause müssen schlimme Dinge passiert sein.
Das größte Problem ist nicht, Peeta zu vergessen, sondern mich nicht an die anderen zu erinnern. Ich brauche Gale nur einmal anzuschauen und sie kommen alle herauf in die Gegenwart und fordern Beachtung. »Prim?«, stoße ich hervor.