Ein entlaufener, psychotischer, rasender Irrer.
Das war die einzige Erklärung, die sie finden konnte, als sie ihn voller Schrecken anstarrte, wie er Schritt für Schritt näher kam, seine schiere Macht und Größe sie mit dem Rücken an die Wand zwangen.
„Du hast mich gerettet, Tess. Ich habe dir keine Wahl gelassen, aber dein Blut hat mich geheilt.“
Tess schüttelte den Kopf. „Ich habe Sie gar nicht geheilt. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob Ihre Verletzungen überhaupt real waren. Vielleicht dachten Sie nur, dass sie es wären …“
„Sie waren real“, sagte er, einen schwachen, rollenden Akzent in seiner tiefen Stimme. „Ohne dein Blut wäre ich krepiert. Aber als ich eben von dir getrunken habe, habe ich etwas mit dir getan. Etwas, das ich nicht rückgängig machen kann.“
„O mein Gott.“ Tess überkam eine Welle von Schwindel, plötzlich war ihr schlecht. „Reden Sie von HIV? Bitte sagen Sie mir nicht, dass Sie AIDS haben …“
Er winkte ab. „Das sind menschliche Krankheiten“, sagte er. „Dagegen bin ich immun. Und du auch, Tess.“
Irgendwie wurde ihr durch diese absurde Aussage nicht besser. „Hören Sie auf, mich so zu nennen. Hören Sie auf, so zu tun, als wüssten Sie irgendetwas über mich …“
„Ich erwarte nicht, dass es dir leicht fällt, das zu verstehen. Ich werde versuchen, es dir so gut zu erklären, wie ich kann. Weißt du, du bist eine Stammesgefährtin, Tess. Das ist für meine Spezies etwas sehr Besonderes.“
„Für Ihre Spezies?“, fragte sie missmutig. Allmählich hatte sie genug von diesem Spiel. „Also schön, ich gebe auf. Was genau ist Ihre Spezies?“
„Ich bin ein Krieger. Ein Angehöriger des Mitternachtsstammes.“
„Ein Krieger. Na gut. Und Stamm, so wie … was für ein Stamm?“
Einen langen Augenblick lang sah er sie nur an, als wollte er seine Antwort abwägen. „Ich bin ein Vampir, Tess.“
Heilige Muttergottes auf Rollschuhen, der war ja wirklich komplett durchgeknallt.
Oder liefen geistig Gesunde vielleicht herum und gaben sich als blutsaugende Ungeheuer aus? – Oder noch schlimmer, führten sie ihre perversen Fantasien in der Realität aus, so wie der Typ es mit ihr gemacht hatte?
Allerdings blieb die Tatsache bestehen, dass auf Tess’ Hals keine Spur einer Verletzung zu sehen war, obwohl sie sicher war – wirklich absolut todsicher –, dass er mit rasiermesserscharfen Reißzähnen in ihren Hals gebissen und eine ganze Menge von ihrem Blut geschluckt hatte.
Und dann war da noch die unglaubliche Tatsache, dass er vor ihr stehen, sich bewegen und reden konnte, als hätte das Betäubungsmittel, das ihn bis nächste Woche außer Gefecht setzen müsste, gar keine Wirkung auf ihn.
Wie war das zu erklären?
Irgendwo draußen jaulten ferne Polizeisirenen, sie schienen sich dem Stadtteil zu nähern, in dem ihre Klinik lag. Tess hörte sie, und auch ihr aus dem Irrenhaus ausgebrochener Geiselnehmer. Er legte leicht den Kopf zur Seite, ließ sie keine Sekunde aus den whiskyfarbenen Augen. Er lächelte trocken, mit einem fast unmerklichen Schmunzeln seines breiten Mundes, dann knurrte er einen Fluch.
„Klingt so, als hätte dein Freund Verstärkung angefordert.“
Tess war zu nervös, um zu antworten, sie war sich nicht sicher, was ihn provozieren würde, jetzt, wo er wusste, dass die Polizei auf dem Weg war.
„Tolle Art, einen Abend zu versauen“, knurrte er, offenbar zu sich selbst. „Wir können die Dinge zwischen uns nicht so lassen, aber so wie’s aussieht, habe ich vorerst keine andere Wahl.“
Er hob seine Hand an Tess’ Gesicht. Sie schrak vor ihm zurück, wollte seiner Berührung ausweichen, erwartete einen harten Faustschlag oder eine andere Brutalität. Aber sie fühlte nur den warmen Druck seiner riesigen Handfläche auf ihrer Stirn. Er lehnte sich an sie, und sie spürte, wie seine Lippen leicht wie eine Feder ihre Wange streiften.
„Mach die Augen zu“, murmelte er.
Und um Tess wurde es Nacht.
„Keine Anzeichen verdächtiger Aktivitäten, Leute. Wir haben alle Zugänge des Gebäudes überprüft, sieht alles gut aus.“
„Danke, Officer“, sagte Tess. Sie kam sich wie eine Idiotin vor, so spät nachts – oder vielmehr so früh morgens – einen solchen Zirkus veranstaltet zu haben.
Ben stand neben ihr im Büro, hatte ihr mit einer beschützenden, leicht besitzergreifenden Geste den Arm um die Schultern gelegt. Er war kurz zuvor angekommen, nachdem Polizeisirenen sie aus einem ungewöhnlich tiefen Schlaf geweckt hatten. Anscheinend hatte sie noch bis spät nachts gearbeitet und war am Schreibtisch eingeschlafen. Irgendwie hatte sie das Telefon heruntergeworfen und die Kurzwahltaste von Bens Nummer aktiviert. Er hatte die Nummer der Klinik auf seinem Display erkannt und sich Sorgen gemacht, dass sie irgendwie in Schwierigkeiten war.
Sein prompter Notruf um drei Uhr morgens schickte eine Funkstreife mit zwei Cops zur Klinik.
Was einen Einbruch oder spätnächtliche Besucher betraf, so konnten sie keinen Grund zur Beunruhigung entdecken. Aber sie hatten Shiva gefunden. Einer der Cops hatte sie über die Herkunft des Tigers befragt, und als Ben darauf bestand, dass er das Tier gefunden und nicht gestohlen hätte, zeigte sich der Beamte skeptisch. Er räumte schließlich ein, dass sich Jugendliche in der Halloweennacht besonders gern Werbemaskottchen für dumme Streiche aussuchten, und Ben versicherte ihm sofort, dass das auch bei Shiva der Fall gewesen sein musste.
Ben hatte wirklich Glück, nicht in Handschellen zu landen. Wie es aussah, war er mit einer Verwarnung davongekommen sowie der Anweisung, Shiva am Morgen umgehend seinem rechtmäßigen Eigentümer, dem Inhaber der Waffenhandlung, zurückzubringen, damit kein falscher Eindruck entstand und womöglich noch Anklage erhoben werden musste.
Tess wand sich unter dem Gewicht von Bens Arm heraus und streckte dem Beamten die Hand hin. „Noch mal vielen Dank, Officer, dass Sie vorbeigekommen sind. Kann ich Ihnen vielleicht einen heißen Kaffee oder Tee anbieten? Ich habe beides da, es dauert nur ein paar Minuten.“
„Nein, vielen Dank, Ma’am.“ Das Funkgerät des Polizisten begann zu rauschen, dann gab die Zentrale eine kodierte Reihe neuer Anweisungen durch. Er sprach in ein Mikrofon, das er am Revers trug, und gab für die Tierklinik Entwarnung durch. „Dann wären wir hier fertig. Passen Sie gut auf sich auf. Und, Mr. Sullivan, ich gehe davon aus, dass Sie den Tiger dahin zurückbringen, wo er hingehört.“
„Jawohl, Sir.“ Bens breites Lächeln wirkte doch etwas angespannt, als er die dargebotene Hand des Cops ergriff und kurz schüttelte.
Sie brachten die Polizisten zur Tür und sahen zu, wie der Einsatzwagen wendete und hinaus auf die stille Straße fuhr.
Als sie fort waren, schloss Ben die Eingangstür und wandte sich Tess zu. „Und dir geht’s wirklich gut, bist du sicher?“
Sie nickte und seufzte tief. „Ja, alles in Ordnung. Tut mir leid, dass du dir Sorgen gemacht hast. Ich muss am Schreibtisch eingeschlafen sein und das Telefon runtergeworfen haben.“
„Nun, ich kann’s nur wiederholen, es ist nicht gut, dass du so spät nachts noch arbeitest. Das ist hier nicht die sicherste Gegend, das weißt du.“
„Ich hatte hier noch nie Probleme.“
„Es gibt immer ein erstes Mal“, sagte Ben grimmig. „Komm, ich bring dich nach Hause.“
„Bis ganz raus nach North End? Das musst du doch nicht machen. Ich nehme mir einfach ein Taxi.“
„Heute Nacht nicht.“ Ben hob ihre Handtasche auf und hielt sie ihr hin. „Ich bin hellwach, und draußen steht mein Kleinbus. Na komm schon, Dornröschen.“
6
Dante stieg im Hauptquartier der Stammeskrieger aus dem Fahrstuhl. Er roch und sah genauso mies aus, wie er sich fühlte. Er befand sich jetzt etwa zweihundert Meter unter einer der reichsten Adressen von Boston: dem von Sicherheitszäunen umgebenen Anwesen auf Straßenniveau, das dem Orden gehörte. Die ganze Fahrt nach unten hatte er sich nichts als Vorwürfe gemacht. Gerade noch hatte er es nach drinnen geschafft, nur Minuten, bevor die Morgendämmerung ihre bleichen Finger über die Stadt ausstreckte und begann, seine UV-allergische Haut zu rösten wie ein nettes Grillsteak.