Was zugegebenermaßen der perfekte Abschluss einer Nacht gewesen wäre, über der in Neonbuchstaben SCHIMPF UND SCHANDE geschrieben stand.
Dante ging eilig den grellweißen Korridor entlang, der sich wie ein unterirdisches Labyrinth durch das Herz des Hauptquartiers wand. Er brauchte jetzt eine heiße Dusche und eine Mütze Schlaf. Er wollte nichts, als die Tagesstunden allein in seinem Privatquartier zu verschlafen. Vielleicht konnte er die nächsten zwanzig Jahre schlafen, lange genug, um sich nicht mit dem Chaos beschäftigen zu müssen, das er heute Nacht an der Oberfläche angerichtet hatte. Rettungslos verfahrene Scheiße.
„Morgen, D.“
Dante murmelte einen unterdrückten Fluch, als er die Stimme hörte, die ihn vom anderen Ende des Ganges rief. Es war Gideon, Computergenie und rechte Hand von Lucan, dem ehrwürdigen Anführer des Ordens. Gideon hatte das Hauptquartier komplett verkabelt; vermutlich hatte er Dantes Ankunft schon von dem Moment an mitverfolgt, als er das Gelände betreten hatte.
„Wo warst du, Mann? Du hättest schon vor Stunden deinen Status durchgeben sollen.“
Dante drehte sich langsam in dem langen Korridor um. „Mein Status ist ein wenig aufgemischt worden, sozusagen.“
„Was du nicht sagst“, antwortete der andere Vampir, während er ihn über den Rand seiner eckigen, hellblau getönten Sonnenbrille schräg ansah. Er lachte in sich hinein, schüttelte seinen stacheligen, blonden Haarschopf. „Mann, siehst du vielleicht scheiße aus. Und du stinkst wie eine Giftmülldeponie. Was zum Henker ist denn mit dir passiert?“
„Lange Geschichte.“ Dante wies auf seine zerfetzten, blutbesudelten, völlig durchweichten Sachen, nach seinem Trip flussabwärts im Mystic River starrten sie vor Dreck, Schlamm und weiß Gott was sonst noch allem. „Ich erzähl’s dir später. Jetzt brauch ich erst mal ’ne Dusche.“
„Schon eher ’ne Autowaschanlage“, pflichtete ihm Gideon bei. „Aber das muss noch etwas warten. Wir haben Gäste im Techniklabor.“
Dante spürte Unmut in sich aufsteigen. „Was für Gäste?“
„Oh, das wird dir gefallen.“ Gideon zeigte mit dem Kopf in Richtung Labor. „Komm schon. Lucan will, dass du dabei bist und deinen Senf dazugibst.“
Dante stieß einen tiefen Seufzer aus und ging neben Gideon her. Das Techniklabor, die Überwachungs- und Logistikzentrale, wo die Vampire meistens ihre Versammlungen abhielten, lag einige Korridorwindungen entfernt. Als die Glaswand in Sicht kam, sah Dante schon von Weitem, dass auch die drei anderen Krieger dort waren, seine Ersatzfamilie: Lucan, der dunkle Anführer des Ordens; Nikolai, ihr ungestümer Experte für Schusswaffen und technische Geräte; und Tegan, nach Lucan der Älteste und das tödlichste Individuum, das Dante je getroffen hatte.
Zwei Mitglieder des Ordens fehlten seit Kurzem. Rio, der vor ein paar Monaten bei einem Hinterhalt der Rogues schwer verletzt worden war und noch auf der Krankenstation lag, und Conlan, der um die gleiche Zeit bei einer Explosion auf einer der Bahnlinien der Stadt von den Rogues getötet worden war.
Als Dante die Versammlung der Stammeskrieger betrachtete, fiel sein Blick auf ein unvertrautes Gesicht. Das musste der Gast sein, den Gideon erwähnt hatte. Der fremde Vampir hatte das ordentliche, etwas geschniegelte Aussehen eines Buchhalters – dunkler Anzug, weißes Hemd, steife graue Krawatte und glänzende schwarze Halbschuhe. Sein goldbraunes Haar war kurz geschnitten und untadelig gekämmt, keine Strähne fehl am Platz. Obwohl man sehen konnte, dass er unter seiner polierten Montur stattlich gebaut war, erinnerte er an einen dieser hübschen Jünglinge, wie man sie in Anzeigen für Designerklamotten oder teures Aftershave in den Zeitschriften der Menschen sah.
Unmutig schüttelte Dante den Kopf. „Sag mir bloß nicht, dass das einer unserer neuen Kandidaten ist.“
„Das“, sagte Gideon, „ist Agent Sterling Chase vom Dunklen Hafen Boston.“
Ein Gesetzeshüter aus dem Dunklen Hafen. Nun, das ergab irgendwie Sinn. Immerhin erklärte es seine zugeknöpfte, bürokratische Erscheinung. „Was will er denn von uns?“
„Informationen. Es geht um ein Bündnis, soweit ich verstanden habe. Der Dunkle Hafen hat ihn zu uns geschickt in der Hoffnung, dass der Orden ihnen in einer bestimmten Sache zu Hilfe kommt.“
„Zu Hilfe kommt“, knurrte Dante skeptisch. „Wir? Denen? Du machst wohl Witze. Es ist noch gar nicht lang her, da hat uns die Normalbevölkerung der Dunklen Häfen noch als gesetzlose Randalierer beschimpft.“
Gideon, der neben ihm ging, sah ihn mit einem verkniffenen Grinsen an. „Ich glaube, eine ihrer höflicheren Formulierungen war ,Dinosaurier‘ die sich überlebt haben und ihrer Vernichtung zugeführt werden sollten‘.“
Welche Ironie, wenn man bedachte, dass die Bewohner dieser Vampirreservate nur deshalb noch existierten, weil die Krieger nach wie vor mit all ihren Kräften die Rogues bekämpften. Schon in dunkleren Jahrhunderten der Menschheitsgeschichte, lange bevor er selbst im Italien des achtzehnten Jahrhunderts geboren wurde, war der Orden der einzige Beschützer des Vampirvolks gewesen. Damals wurden sie noch als Helden verehrt. Seitdem hatten die Krieger auf der ganzen Welt Rogues gejagt und ausgelöscht und selbst den kleinsten Aufständen ein Ende gemacht, ehe sie eine Chance bekamen, sich auszuweiten – und jetzt leisteten sich die Dunklen Häfen eine entspannte Haltung arroganter Zuversicht. In der modernen Epoche war die Gruppe der Rogues zahlenmäßig zunächst klein geblieben, aber seit Neuestem wieder im Anwachsen begriffen. Inzwischen hatten die Dunklen Häfen Rechtsvorschriften und bürokratische Verfahren entwickelt, laut denen Rogues wie gewöhnliche Kriminelle behandelt werden sollten, wobei man unsinnigerweise davon ausging, dass sich das Problem durch Haft und Resozialisierungsprogramme lösen ließ.
Die Stammeskrieger wussten es besser. Sie sahen die Gemetzel der Rogues aus nächster Nähe mit an, während sich der Rest der Vampirbevölkerung in seinen Reservaten verkroch und sich dort in falscher Sicherheit wiegte. Dante und seine Mitstreiter im Orden waren die einzige wirkliche Verteidigung des Stammes, und sie zogen es vor, unabhängig zu arbeiten – manche sagten auch, an den machtlosen Gesetzen der Dunklen Häfen vorbei.
„Die bitten uns um Hilfe?“ Dante ballte seine Hände zu Fäusten, er war nicht in der Stimmung, sich mit Vampirpolitik abzugeben oder mit den Idioten, deren Beruf das war. „Ich hoffe, Lucan hat das Treffen einberufen, damit wir denen beweisen, dass wir Wilde sind, indem wir ihren verdammten Boten umlegen.“
Gideon kicherte, als die Glastüren des Labors vor ihnen aufschwangen. „Versuch mal, den guten Agenten Chase nicht gleich zu verscheuchen, bevor er eine Chance hatte, zu erklären, warum er gekommen ist. Kriegst du das hin, D.?“
Gideon betrat den Raum. Dante folgte ihm in die geräumige Kommandozentrale und nickte Lucan und seinen Brüdern respektvoll zu. Dann wandte er sich dem Agenten zu und begegnete ruhig seinem Blick. Der Zivilvampir erhob sich von seinem Stuhl am Konferenztisch und musterte Dantes blutige, zerschlagene Erscheinung mit unverhohlenem Abscheu.
Jetzt war er doch verdammt froh, vor dem Treffen keine Säuberungspause eingelegt zu haben. Um ihn weiter zu brüskieren, ging Dante auf den Agenten zu und hielt ihm seine dreckverschmierte Hand zur Begrüßung hin.
„Sie müssen der Krieger Dante sein“, sagte der Abgesandte des Dunklen Hafens mit tiefer, kultivierter Stimme. Er ergriff Dantes ausgestreckte Hand und schüttelte sie kurz. Der Agent schnüffelte fast unmerklich, seine feinen Nasenflügel zitterten, als sie Dantes Gestank erfassten. „Was für eine Ehre, Sie kennenzulernen. Ich bin Agent Sterling Chase vom Dunklen Hafen Boston. Special Agent, mit erweiterter Handlungsbefugnis“, fügte er lächelnd hinzu. „Aber lassen wir doch die Formalitäten, ich bitte Sie alle, mich anzusprechen, wie Sie möchten.“