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Dante grunzte nur. Er musste sich zusammennehmen, um nicht die Anrede zu verwenden, die ihm auf der Zunge lag. Stattdessen ließ er sich in den Sessel neben dem Agenten fallen und starrte ihn weiterhin kühl an.

Lucan räusperte sich. Mehr brauchte er als Ältester des Ordens nicht zu tun, um den Vorsitz des Treffens zu übernehmen. „Jetzt, wo wir alle hier sind, lasst uns zur Sache kommen. Agent Chase bringt uns beunruhigende Neuigkeiten vom Dunklen Hafen in Boston. Dort werden seit Kurzem eine Menge junger Vampire vermisst, und er bittet den Orden um Hilfe, sie zu finden und gegebenenfalls zu bergen. Ich habe ihm zugesagt.“

„Ist ja nicht direkt unser Job, Such- und Rettungsteam zu spielen“, meinte Dante, seinen Blick fest auf den Zivilisten geheftet, und rund um den Tisch erhob sich von den anderen Kriegern ein zustimmendes Knurren.

„Das ist wahr“, stimmte Nikolai grinsend ein. Er war in Russland geboren, sein langes sandfarbenes Haar, das ihm ins Gesicht fiel, konnte die winterliche Kälte seiner eisblauen Augen kaum verbergen. „Wir sind mehr als ein Vermisstensuchkommando.“

„Es geht hier um mehr als nur ein paar Vampire, die während der Ausgehsperre herumstreunen und ein paar hinter die Ohren brauchen“, sagte Lucan. Sein grimmiger Ton sorgte sofort für Ruhe im Raum. „Agent Chase wird es uns erklären.“

„Letzten Monat verließ eine dreiköpfige Gruppe junger Leute den Dunklen Hafen, um auf eine Raveparty irgendwo in der Innenstadt zu gehen. Sie kamen nie zurück. Eine Woche später verschwanden zwei andere. Und seither werden aus unseren Reservaten im Großraum Boston jede Nacht Vermisste gemeldet.“ Agent Chase griff in eine Aktentasche, zog einen dicken Aktenordner heraus und warf ihn auf die Mitte des Konferenztisches. Aus der Kartonhülle rutschte etwa ein Dutzend Fotos heraus – die lächelnden Gesichter von jungen Vampirmännern. „Und das sind nur die gemeldeten Vermissten. In der Zeit, die ich hier bei Ihnen bin, haben wir vermutlich schon wieder ein paar Fälle mehr.“

Dante blätterte die Fotografien durch und gab dann den Ordner weiter. Das konnten nicht alles Ausreißer sein. Das Leben in den Dunklen Häfen konnte für junge Männer, die der Welt etwas beweisen wollten, schon sehr langweilig sein, aber es war doch nicht so schlimm, dass sie gruppenweise von dort ausrissen. „Hat man keinen von ihnen gefunden? Sind sie nirgends gesehen worden? So viele Vermisste in so kurzer Zeit – darüber muss doch jemand etwas wissen.“

„Es wurden nur ein paar gefunden.“

Chase zog einen zweiten Ordner aus seiner Aktentasche, bedeutend dünner als der erste. Er entnahm ihm einige Fotos und breitete sie vor sich auf dem Tisch aus. Es waren Autopsiefotos. Drei Zivilvampire der aktuellen Generation, vermutlich keiner von ihnen über fünfunddreißig. Auf jedem Foto starrte ein Paar blickloser Augen in die Kameralinse, die Pupillen zu hungrigen Schlitzen verengt, die ursprüngliche Farbe der Iris im lohgelben Glanz der Blutgier verfärbt.

„Rogues“, zischte Niko.

„Nein“, erwiderte Agent Chase. „Sie starben in einem Anfall von Blutgier, aber sie waren noch nicht mutiert. Sie waren keine Rogues.“

Dante erhob sich von seinem Stuhl und lehnte sich über den Tisch, um sich die Bilder genauer anzusehen. Sofort stach ihm die Kruste von getrocknetem rosafarbenen Schaum um die erschlafften Münder der Toten in den Blick. Die gleiche Art von Speichelrückständen, die ihm heute Nacht an seinem Angreifer vor dem Club aufgefallen war. „Irgendeine Idee, was sie getötet hat?“

Chase nickte. „Eine Überdosis Drogen.“

„Hat einer von euch von einer neuen Clubdroge gehört, die Crimson, also Purpur, genannt wird?“, fragte Lucan seine Stammeskrieger. Keiner hatte davon gehört. „Soweit Agent Chase mir erzählt hat, ist das ein besonders widerliches Zeug, das neuerdings vermehrt bei unseren Jugendlichen auftaucht. Es ist ein Stimulans von schwach halluzinogener Wirkung, das kurzzeitig auch Stärke und Ausdauer steigert. Aber das ist nur der Anfang. Richtig spaßig wird es fünfzehn Minuten nach der Einnahme.“

„Genau“, sagte Agent Chase. „Wird dieses rote Pulver verzehrt oder inhaliert, spürt man bald extremen Durst und abwechselnd fiebrige Hitzewallungen und Schüttelfrost. Dann folgen Krampfanfälle und das wirklich gefährliche Stadium: ein tierähnlicher Zustand mit allen Anzeichen der Blutgier. Starre, elliptische Pupillen, permanent ausgefahrene Fangzähne, unstillbarer Hunger nach Blut. Kann jemand in diesem Zustand seinem Trieb voll nachgeben, wird er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zum Rogue mutieren. Bleibt er weiter Crimson-Konsument“, er zeigte auf die Autopsiefotos, „dann läuft es hierauf hinaus.“

Dante fluchte. Zum einen frustrierte ihn der Gedanke an die Massenhysterie, die bald in den Vampirreservaten ausbrechen würde. Außerdem war ihm klar geworden, dass der Junge im Blutrausch, den er heute Nacht getötet hatte, einer dieser jungen Vampire im Crimsonrausch gewesen war. Er hatte ihn extrem heftig angegriffen, also hatte Dante ihn ausgeschaltet, aber dabei hatte er ein ungutes Gefühl gehabt.

„Diese Droge, Crimson“, sagte Dante. „Irgendeine Idee, woher das Zeug kommt, wer es herstellt oder verbreitet?“

„Wir wissen nicht mehr als das, was ich Ihnen eben referiert habe.“

Dante sah Lucans ernste Miene und verstand, worauf die Sache hinauslaufen würde. „Ach, also das ist unser Job?“

„Die Dunklen Häfen haben uns um Unterstützung gebeten. Es geht darum, vermisste Zivilisten zu identifizieren und wenn möglich jeden Vermissten, den wir bei unseren nächtlichen Streifzügen aufgreifen, zurückzubringen. Davon abgesehen ist es natürlich in unser aller Interesse, dass mit Crimson sowie seinen Herstellern und Dealern Schluss gemacht wird. Ich denke, wir sind uns alle darin einig, dass es das Letzte ist, was wir brauchen – noch mehr Vampire, die zu Rogues mutieren.“

Dante und die anderen nickten.

„Wir wissen die Hilfsbereitschaft des Ordens in dieser Sache sehr zu schätzen. Ich danke Ihnen allen“, sagte Chase und sah dabei nacheinander jeden einzelnen Krieger an. „Aber da ist noch etwas, wenn Sie erlauben.“

Lucan nickte dem Agenten kurz zu und bedeutete ihm, fortzufahren.

Chase räusperte sich. „Ich möchte in dieser Operation eine aktive Rolle übernehmen.“

Eine lange, schwere Stille breitete sich aus, als Lucan das Gesicht verzog und sich in seinem Stuhl am Kopfende des Tisches zurücklehnte. „In welchem Sinn aktiv?“

„Ich will ein oder mehrere Mitglieder des Ordens begleiten, um die Operation persönlich zu überwachen und bei der Bergung der vermissten Individuen mitzuwirken.“

Nikolai, der auf Dantes anderer Seite saß, prustete vor Lachen los.

Gideon fuhr mit den Fingern durch sein kurz geschorenes Haar, dann warf er seine blassblaue Sonnenbrille auf den Tisch. „Wir nehmen auf unsere Operationen keine Zivilisten mit. Das haben wir nie getan und werden es auch nie tun.“

Selbst der stoische Tegan, der während des gesamten Treffens kein einziges Wort von sich gegeben hatte, äußerte nun sein Missfallen. „Sie werden nicht einmal das Ende Ihrer ersten Nacht überleben, Agent“, stellte er teilnahmslos fest. Es war nur die nackte Wahrheit.

Dante zeigte sein Missfallen nicht, er war sicher, dass Lucan, der dem Agenten in der Hierarchie übergeordnet war, ihn schon mit einem autoritären Blick zum Verstummen bringen würde. Aber Lucan wies die Idee nicht sofort zurück. Er erhob sich, die Fäuste auf den Rand des Konferenztisches gestützt.

„Lassen Sie uns allein“, sagte er zu Chase. „Meine Brüder und ich werden Ihr Gesuch unter uns diskutieren. Das Treffen ist hiermit beendet, Agent Chase. Sie können in Ihr Reservat zurückkehren, um unsere Entscheidung abzuwarten. Ich werde mit Ihnen in Verbindung bleiben.“

Auch Dante und die anderen Krieger erhoben sich. Dann, nach einer langen Weile, stand auch der Agent auf und nahm seine glänzende Aktentasche vom Boden. Dante trat einen Schritt vom Tisch zurück. Als Chase versuchte, an ihm vorbeizugehen, wurde sein Weg von Dantes massiger Schulter blockiert, sodass er gezwungenermaßen stehen bleiben musste.