Aber leider kaschierte keine Tarnkleidung der Welt, dass Harvard momentan Dantes offizielle Nervensäge Nummer eins war. Zu dumm.
„Wenn wir je eine Bank ausrauben, weiß ich immerhin, wer mir Tipps für meine Garderobe gibt“, sagte er zu dem Agenten und schlüpfte in seinen ledernen Trenchcoat, der innen mit allen möglichen Arten von Handwaffen gespickt war. Dann machten sie sich auf den Weg zur Garage des Hauptquartiers, um sich aus dem Fuhrpark des Ordens einen Wagen zu holen.
„Sie können mich gern fragen, aber ich werde nicht atemlos auf Ihren Anruf warten“, gab Chase zurück, wobei er den Blick über die erstklassige Sammlung von Fahrzeugen wandern ließ. „Wie ich sehe, scheint der Orden finanziell gut dazustehen, auch ohne dabei auf Diebstahl im großen Stil angewiesen zu sein.“
Die riesige, hangarähnliche Garage war vollgeparkt mit hochwertigen Vehikeln – Limousinen, Nutzfahrzeugen und Motorrädern. Einige Oldtimer waren darunter, die meisten Modelle aber waren neu, jedes einzelne Fahrzeug ein Prachtstück erlesener Schönheit. Dante führte ihn zu einem brandneuen, asphaltschwarzen Porsche Cayman S und drückte auf die Fernbedienung, um die Türen zu entriegeln. Sie kletterten in das Coupe, und Chase sah sich anerkennend darin um, als Dante den Motor aufheulen ließ, den Code aktivierte, der das Tor des Hangars öffnete, und das schnittige schwarze Biest auf seinen nächtlichen Streifzug hinausfuhr.
„Der Orden scheint keinerlei Geldsorgen zu kennen“, bemerkte Chase neben Dante im schwach erleuchteten Cockpit des Porsche. Er ließ ein amüsiertes Kichern hören. „Wissen Sie, unter den Bewohnern der Dunklen Häfen ist die Vorstellung weit verbreitet, dass Sie primitive Söldner sind, die immer noch wie gesetzlose Tiere in unterirdischen Käfigen hausen.“
„Was Sie nicht sagen“, murmelte Dante und starrte auf den dunklen Straßenabschnitt, der vor ihm lag. Mit der rechten Hand öffnete er das Handschuhfach und zog einen Ledersack heraus. Er enthielt eine kleine Waffenkiste, deren Inhalt – diverse unterschiedlich große Messer, die in Scheiden steckten, eine schwere Kette und eine halbautomatische Pistole im Holster – er dem Agenten in den Schoß warf. „Machen Sie sich bereit, Harvard. Ich hoffe doch sehr, dass Sie wissen, mit welchem Ende dieser schönen Beretta 92FS Sie auf die bösen Jungs schießen müssen. Wo Sie doch aus Ihrem Paradies der Kultiviertheit in unsere niederen Gefilde herabgestiegen sind.“
Chase schüttelte den Kopf und murmelte eine Rechtfertigung. „Hören Sie, so habe ich das nicht gemeint …“
„Interessiert mich einen Dreck, was Sie gemeint haben“, erwiderte Dante und nahm eine scharfe Linkskurve um ein Kaufhaus herum, dann schnurrte der Porsche eine leere Gasse entlang. „Interessiert mich einen Dreck, was Sie von mir oder meinen Brüdern halten. Das will ich von Anfang an geklärt haben, capisce? Sie fahren hier nur mit, weil Lucan sagt, dass Sie hier mitfahren. Das Beste, was Sie jetzt tun können, ist festhalten, Klappe halten und mir verdammt noch mal nicht in die Quere kommen.“
In den Augen des Agenten blitzte es verärgert auf, seine Wut strahlte in Wellen von ihm ab. Obwohl Dante deutlich merkte, dass der Agent es nicht gewohnt war, Befehle entgegenzunehmen – schon gar nicht von jemandem, der seiner Ansicht nach gesellschaftlich ein paar Stufen unter ihm stand –, behielt der Mann aus dem Dunklen Hafen seine Verärgerung für sich. Er steckte die Waffen ein, die Dante ihm gegeben hatte, überprüfte, ob die Pistole gesichert war, und schob sie in das lederne Brusthalfter.
Dante fuhr nach North End. Gideon hatte einen Tipp bekommen, dass dort in einem der alten Gebäude ein Rave stattfinden sollte. Jetzt, um halb acht, hatten sie noch ungefähr fünf Stunden totzuschlagen, bevor sich herausstellte, ob an diesem Tipp wirklich etwas dran war oder nicht. Aber Dante war nicht der geduldige Typ. Er saß nicht herum und wartete ab. Der Tod, dachte er, hatte schwereres Spiel mit einem, wenn man immer in Bewegung blieb.
Er schaltete die Scheinwerfer aus und parkte den Porsche ein Stück weiter an der Straße, in der das Gebäude stand, das sie beobachten würden. Eine Brise kam auf und schickte einen Schwung welker Blätter und Straßenstaub über die Kühlerhaube. Als sie sich legte, fuhr Dante das Fenster herunter, ließ die Kühle hereinströmen und atmete tief ein, füllte seine Lunge mit der kühlen, herbstlichen Luft.
Etwas Würzig-Süßes kitzelte seine Nase und weckte jede einzelne Zelle seines Körpers auf. Der Duft war fern und schwer fassbar, nichts, was von Menschen oder Vampiren hergestellt sein konnte. Er war düster und warm, wie Zimt und Vanille, obwohl sich so nur ein Bruchteil seines Zaubers beschreiben ließ. Der Duft war exquisit und absolut einzigartig.
Dante erkannte ihn sofort. Er gehörte zu der jungen Frau, von der er sich genährt hatte – der Stammesgefährtin, die er sich vor weniger als vierundzwanzig Stunden so sorglos zu eigen gemacht hatte.
Tess.
Dante öffnete die Tür und stieg aus.
„Was machen wir jetzt?“
„Sie bleiben hier“, instruierte er Chase. Er fühlte sich mit unwiderstehlicher Kraft zu ihr hingezogen, schon bewegten sich seine Füße auf dem Asphalt in die Richtung, aus der ihr Duft kam.
„Was ist los?“ Der Agent zog seine Waffe und schickte sich an, aus dem Porsche zu steigen, als habe er vor, Dante auf Schritt und Tritt zu folgen. „Sagen Sie mir, was los ist, verdammt noch mal. Sehen Sie was da draußen?“
„Sie bleiben im Auto, Harvard. Und lassen Sie das Gebäude nicht aus den Augen. Ich muss etwas überprüfen.“
Dante glaubte nicht, dass an ihrem Posten in den nächsten paar Minuten etwas passieren würde, aber auch wenn dem so war, es war ihm egal. Alles, was ihn jetzt beschäftigte, war dieser Duft im Nachtwind, der ihm sagte, dass die junge Frau ganz in der Nähe war.
Seine Frau, erinnerte ihn eine Stimme, die tief aus seinem Inneren kam.
Dante verfolgte sie wie ein Raubtier seine Beute. Wie bei allen Angehörigen des Stammes waren seine Sinne überdurchschnittlich entwickelt. Zudem verfügte er über die Fähigkeit, sich mit übernatürlicher Geschwindigkeit zu bewegen, und er besaß die Beweglichkeit und Gelenkigkeit eines Tieres. Wenn sie es wollten, konnten sich Vampire unbemerkt unter den Menschen bewegen. Während sie an ihnen vorbeistrichen, nahmen die Menschen sie nur als kühlen Luftzug im Nacken wahr. Dante nutzte diese Fähigkeit nun, um sich durch bevölkerte Straßen und Gassen zu navigieren, all seine Sinne fest auf seine Beute gerichtet.
Er bog um eine Ecke auf eine geschäftige Hauptstraße, und da war sie, direkt vor ihm auf der anderen Straßenseite.
Sofort blieb Dante stehen und beobachtete Tess, wie sie an einem hell erleuchteten Straßenstand einkaufte, sorgfältig frischen Salat und Gemüse auswählte. Sie ließ einen gelben Kürbis in ihre leinene Einkaufstasche fallen, dann stöberte sie in einem Obstkorb und hob eine blasse Honigmelone an die Nase, um ihren Reifegrad zu prüfen.
Er dachte an den Moment zurück, als er sie in ihrer Klinik zum ersten Mal gesehen hatte. Selbst durch den Nebel seiner Verletzungen hindurch hatte er erkannt, dass sie schön war. Aber heute Nacht, im Schein der kleinen Lichterkette, die die Obst- und Gemüsekisten beleuchtete, sah sie geradezu betörend aus. Ihre Wangen waren leicht gerötet, ihre blaugrünen Augen strahlten, als sie der alten Standbesitzerin zulächelte und die Qualität ihrer Ware lobte.
Dante blieb auf seiner Straßenseite und hielt sich im Schatten. Er konnte die Augen nicht von ihr lassen. Hier, fast in ihrer unmittelbaren Nähe, war ihr Duft üppig und berauschend. Er atmete ihn durch den Mund ein, zog seine würzige Süße durch die Zähne, genoss, wie sie seine Zunge umspielte.
O Gott, er wollte sie wieder schmecken.
Er wollte von ihr trinken.
Er wollte sie nehmen.
Bevor er wusste, was er tat, trat Dante vom Gehsteig auf die Straße. Jetzt hätte er nur noch eine halbe Sekunde gebraucht, um neben ihr zu stehen, aber da bemerkte er etwas Seltsames.