Er sah seinen eigenen Tod voraus.
Er kannte jede schmerzerfüllte Sekunde seiner letzten Momente; was er nicht wusste, war das Warum, das Wo und das Wann. Er wusste sogar, wem er den Fluch dieser Vision zu verdanken hatte.
Die Frau, die ihm vor 299 Jahren in Italien das Leben geschenkt hatte, hatte nicht nur ihren eigenen Tod vorhergesehen, sondern auch den ihres geliebten Gefährten – des Vampirs, der Dantes gelehrter, aristokratischer Vater gewesen war. Genau wie sie es vorhergesagt hatte, erlitt die sanfte Frau ein tragisches Schicksaclass="underline" Sie ertrank im Meer in einer Flutwelle bei dem Versuch, ein Kind vor demselben Los zu bewahren. Dantes Vater, so hatte sie vorausgesehen, würde von einem eifersüchtigen politischen Rivalen erschlagen werden. Etwa achtzig Jahre nach ihrem Tod hatte Dante vor einer überfüllten Versammlungshalle im Dunklen Hafen von Rom seinen Vater verloren, genau so, wie sie es beschrieben hatte.
Jede Stammesgefährtin hatte ihre einzigartige Gabe, und wie es beim Vampirvolk so oft der Fall war, war die Gabe seiner Mutter auf ihren einzigen Sohn übergegangen. Also war es nun Dante, der mit Todesvisionen zu kämpfen hatte.
„Komm wieder ins Bett“, bettelte eine der jungen Frauen hinter ihm. „Komm schon, sei nicht so ein Spielverderber.“
Dante fuhr in Kleider und Schuhe und ging zum Bett zurück. Die Frauen streckten die Hände nach ihm aus und befingerten ihn schläfrig, sobald er ihnen nah genug war, ihr Verstand immer noch träge von der Macht seines früheren Bisses. Er hatte ihre Wunden sofort versiegelt, aber bevor er sich davonmachen konnte, gab es noch etwas für ihn zu tun. Dante streckte die Hand aus, legte sie zuerst dem einen, dann dem anderen Mädchen auf die Stirn und löschte so jede Erinnerung an die heutige Nacht aus ihrem Gedächtnis.
Wenn das doch bloß auch bei mir funktionieren würde, dachte er, die Kehle immer noch trocken vom Geschmack nach Rauch, Asche und Tod.
9
„Entspann dich, Tess.“ Bens Hand kam unten auf ihrem Kreuz zu liegen, sein Kopf war dicht an ihrem Ohr. „Falls du’s noch nicht gemerkt hast, das ist ein Cocktailempfang und keine Beerdigung.“
Zum Glück, dachte Tess und sah auf ihr granatrotes Abendkleid hinunter. Obwohl das schlichte Hängerkleid, das sie in einer Secondhand-Boutique erstanden hatte, eines ihrer Lieblingskleider war, war sie die Einzige in einem Meer von Schwarz, die etwas Farbiges trug. Sie fühlte sich fehl am Platz, fiel völlig aus der Reihe.
Aber eigentlich tat sie das ja immer. Sie war es nicht gewohnt, zu anderen Leuten zu passen, das war schon so, seit sie ein kleines Mädchen war. Sie war immer … irgendwie anders gewesen. Etwas, das sie nicht verstand und von dem sie gelernt hatte, es zu verdrängen, hatte sie immer abgesondert vom Rest der Welt. Sie konnte nur so tun als ob, sich scheinbar anpassen, versuchen dazuzugehören – aber es war meist fruchtlos, so wie jetzt auch, in diesem überfüllten Raum voller Fremder.
Außerdem hatte Tess zunehmend ein unbehagliches Gefühl, so als braute sich um sie ein mächtiger Sturm zusammen. Als versammelten sich rings umher unsichtbare Mächte, um sie auf eine dünne, schwankende Planke hinauszudrängen. Wenn sie jetzt auf ihre Füße hinuntersah, dachte sie, war dort nur noch ein gähnender Abgrund. Ein tiefer, endloser Fall.
Sie massierte sich den Nacken, fühlte einen stumpfen Schmerz in den Sehnen unter ihrem Ohr.
„Alles in Ordnung?“, fragte Ben. „Du bist schon den ganzen Abend so still.“
„Wirklich? Entschuldige bitte. Es war keine Absicht.“
„Amüsierst du dich?“
Sie nickte mit einem gezwungenen Lächeln. „Die Ausstellung ist wirklich fantastisch, Ben. Im Programm steht, dass es eine geschlossene Sponsorenveranstaltung ist, wie hast du es denn geschafft, an die Karten zu kommen?“
„Ach, ich hab noch ein paar Connections in der Stadt.“ Er zuckte die Achseln, dann leerte er sein Champagnerglas. „Jemand hat mir noch einen Gefallen geschuldet. Und es ist nicht, was du denkst.“ Er klang tadelnd, als er ihr das leere Mineralwasserglas aus der Hand nahm. „Ich kenne den Barkeeper, und der kennt eins der Mädchen, das bei diesen Events hier im Museum arbeitet. Weil ich doch wusste, wie sehr du Skulpturen liebst, habe ich ihn vor ein paar Monaten angehauen, ob er mir nicht zwei Karten für diesen Empfang besorgen kann.“
„Und der Gefallen?“, fragte Tess argwöhnisch. Sie wusste, dass Ben sich manchmal mit recht zwielichtigen Gestalten herumtrieb. „Was hast du für diesen Typ getan?“
„Sein Wagen war in der Reparatur. Ich hab ihm für einen Abend meinen Bus geliehen, für eine Hochzeit, auf der er arbeiten musste. Das ist alles. Kein krummes Ding, nichts Böses dahinter.“ Ben warf ihr sein berühmtes schmelzendes Lächeln zu. „Hey, ich hab’s dir doch versprochen.“
Tess nickte vage.
„Wo wir schon beim Thema Barkeeper sind – wie wär’s mit noch einem Drink? Nimmt die Dame wieder Mineralwasser mit Limettenschnitz?“
„Ja, danke.“
Während Ben sich durch die Menge einen Weg zur Bar bahnte, nahm Tess ihre Wanderung durch die Ausstellung im großen Ballsaal wieder auf. Hunderte von Skulpturen, die Jahrtausende der Menschheitsgeschichte repräsentierten, waren dort in hohen Schauvitrinen aus Plexiglas ausgestellt.
Tess geriet hinter eine Gruppe blonder, gebräunter, juwelenbehängter Society-Damen, die ihr die Sicht auf eine Vitrine mit italienischen Terrakottafigurinen verstellten. Sie unterhielten sich eifrig über das verpfuschte Stirnlifting von Mrs. Soundso und die Affäre einer gewissen Mrs. Sonstwie mit dem Tennistrainer des Countryclubs, der nicht einmal halb so alt war wie sie. Tess stand direkt hinter ihnen und versuchte wirklich, nicht zuzuhören, sondern sich nur die elegante Skulptur, Cornacchinis Schlafenden Endymion, aus der Nähe anzusehen.
Sie kam sich wie eine Hochstaplerin vor. Sowohl als Bens Begleiterin heute Abend als auch unter diesen Leuten, reichen Sponsoren und Gönnern des Kunstmuseums, denen die Veranstaltung eigentlich galt. Das waren eher Bens Kreise als ihre. In Boston geboren, war Ben mit Kunstmuseen und Theater aufgewachsen. Ihre kulturelle Bildung hatte sich auf Landwirtschaftsmessen und das kleine Kino im Dorf beschränkt. Was sie über Kunst wusste, war im besten Fall dürftig. Aber ihre Liebe zur Bildhauerei war für sie immer schon so etwas wie eine Flucht aus ihrem Alltag gewesen, besonders in den schweren Tagen daheim im ländlichen Illinois.
Damals war sie eine andere Person gewesen. Teresa Dawn Culver kannte sich mit Hochstaplern aus, dafür hatte ihr Stiefvater gesorgt, in jeder Hinsicht ein mustergültiger Bürger: erfolgreich, freundlich, mit festen moralischen Grundsätzen. Aber keine dieser Eigenschaften traf wirklich auf ihn zu. Jetzt war er schon seit fast neun Jahren tot, und auch ihre Mutter, von der sie sich entfremdet hatte, war vor Kurzem gestorben. Was Tess anging, hatte sie diese leidvolle Vergangenheit mit ihrem Umzug durch den halben Kontinent endgültig hinter sich gebracht.
Wenn sie doch auch ihre Erinnerungen loswerden könnte.
Das schreckliche Wissen, was sie getan hatte …
Tess konzentrierte ihre Aufmerksamkeit auf die eleganten Linien des Endymion. Als sie die Terrakottafigurine aus dem achtzehnten Jahrhundert in sich aufnahm, begannen die feinen Härchen in ihrem Nacken sich plötzlich aufzurichten. Hitze überströmte sie – nur sehr kurz, aber intensiv genug, dass sie sich nach ihrer Quelle umsah. Aber da war nichts. Die Gruppe tratschender Frauen ging weiter, und dann war Tess mit der Statue allein.
Wieder warf sie einen Blick in die Schauvitrine, ließ sich von der Schönheit des Kunstwerkes davontragen zu einem Ort des Friedens und des Trostes, an dem ihre privaten Sorgen nichts zu suchen hatten.
„Exquisit.“
Eine tiefe Stimme, mit einem leichten, eleganten Akzent gefärbt, riss sie aus ihren Gedanken. Dort, auf der anderen Seite des gläsernen Schaukastens, stand ein Mann. Tess sah in whiskyfarbene Augen mit dicken, tuscheschwarzen Wimpern. Wenn sie schon dachte, dass sie in dieser Nobelveranstaltung fehl am Platz wirkte, dann tat es dieser Typ erst recht.