An die zwei Meter Dunkelheit starrten sie mit falkenhaften Augen und einem ernsten Selbstbewusstsein an, das fast schon bedrohlich wirkte. Er war ganz in Schwarz gekleidet, alles an ihm war schwarz: die schimmernden Wellen seines Haares, die breiten Falten seines Ledermantels, das hautenge Hemd, seine langen Beine, die offenbar in schwarzen Drillichhosen steckten.
Trotz seiner unpassenden, zwanglosen Aufmachung trug er ein Selbstbewusstsein zur Schau, als gehörte ihm das Museum. Er strahlte eine Aura von Macht aus, auch wenn er einfach nur ganz ruhig dastand. Aus allen Ecken des Raumes starrten Leute ihn an, nicht etwa verächtlich oder missbilligend, sondern mit Ehrerbietung und einer respektvollen Vorsicht – die auch Tess nicht umhin konnte zu fühlen. Sie merkte jetzt, dass sie ihn mit offenem Mund anstarrte, und sah schnell wieder auf die Skulptur, um der Hitze seines unerschütterlichen Blickes auszuweichen.
„Es ist – sehr schön“, stotterte sie und hoffte inständig, dass sie nicht so aufgescheucht aussah, wie sie sich gerade fühlte.
Unerklärlicherweise raste ihr Herz, und der seltsame, prickelnde Schmerz seitlich an ihrem Hals war wieder zurückgekehrt. Sie berührte die Stelle unter ihrem Ohr, wo nun ihr Puls dröhnte, und versuchte, ihn wegzumassieren. Aber das Gefühl wurde nur noch intensiver, es war wie ein Summen und Rauschen in ihrem Blut. Sie fühlte sich aufgekratzt und nervös, sie brauchte frische Luft. Als sie zum nächsten Exponat weitergehen wollte, kam der Mann um den Glaskasten herum und trat ihr in den Weg.
„Cornacchini ist ein Meister“, sagte er, der Name ein seidiges Grollen wie das Schnurren einer riesigen Katze. „Ich kenne nicht alle seine Werke, aber meine Eltern zu Hause in Italien waren große Kunstliebhaber.“
Italien. Das erklärte seinen wunderbaren Akzent. Da sie nun keinen einfachen Abgang mehr machen konnte, nickte Tess höflich. „Sind Sie schon lange in den Staaten?“
„Ja.“ Ein Lächeln umspielte seinen sinnlichen Mund. „Schon sehr, sehr lange. Mein Name ist Dante“, fügte er hinzu und hielt ihr seine riesige Hand hin.
„Tess.“ Sie nahm seinen Handschlag an und keuchte beinahe auf, als sich seine Finger um ihre schlossen: Das Aufeinandertreffen ihrer Hände war von einer geradezu elektrischen Intensität.
Du lieber Himmel, sah dieser Typ gut aus. Nicht gut im Sinne von Model, sondern schroff und maskulin, mit einem eckigen Kinn und schmalen Wangenknochen. Seine vollen Lippen konnten jedes der collagengespritzen Society-Weiber auf diesem Empfang vor Neid zum Weinen bringen. Er hatte einfach eines dieser Gesichter, die Künstler seit Jahrhunderten versuchten, in Ton und Marmor einzufangen. Sein einziger sichtbarer Makel war ein Knick in seinem sonst geraden Nasenrücken.
Ein Schlägertyp?, fragte sich Tess, und ihr Interesse schwand bereits teilweise wieder. Für gewalttätige Männer hatte sie nichts übrig. Auch nicht, wenn sie aussahen und sich anhörten wie gefallene Engel.
Sie schenkte ihm ein freundliches Lächeln und schickte sich an weiterzugehen. „Viel Vergnügen noch auf der Ausstellung.“
„Warten Sie. Warum laufen Sie weg?“ Seine Hand kam auf ihrem Unterarm zu liegen, die Berührung war nur ganz leicht, aber dennoch blieb sie sofort stehen. „Haben Sie Angst vor mir, Tess?“
„Nein.“ Was für eine komische Frage. „Sollte ich?“
Etwas flackerte in seinen Augen auf und verschwand sofort wieder.
„Nein, das möchte ich nicht. Ich möchte, dass Sie bleiben, Tess.“
Wieder und wieder sprach er ihren Namen aus, und jedes Mal, wenn ihr Name von seiner Zunge rollte, fühlte sie, wie ein Teil ihrer Nervosität schwand. „Schauen Sie, ähm, ich bin mit jemandem hier“, platzte sie heraus, das war die einfachste Entschuldigung, die ihr einfiel.
„Ihr Freund?“, fragte er und sah argwöhnisch zur Bar hinüber, wohin Ben verschwunden war. „Sie wollen nicht, dass er zurückkommt und sieht, wie wir uns unterhalten?“
Es klang lächerlich, und sie wusste es. Ben hatte keine Ansprüche auf sie, und selbst wenn sie noch zusammen wären, würde sie sich nicht so sehr von ihm dominieren lassen, dass sie sich nicht mit einem anderen Mann unterhalten konnte. Denn das war alles, was sie gerade mit Dante tat. Und trotzdem fühlte es sich seltsam intensiv und intim an. Es fühlte sich ungehörig an.
Und gefährlich. Weil sie sich trotz allem, was sie darüber gelernt hatte, wie sie sich schützen, wie sie wachsam bleiben konnte, spürte, dass dieser Fremde sie magisch anzog.
Mehr noch, sie fühlte sich auf eine unerklärliche Weise mit ihm verbunden.
Er lächelte sie an, dann begann er, langsam um den Cornacchini herumzugehen. „Schlafender Endymion“, las er von der Plakette ab, die unten an der Statue des mythischen jungen Hirten angebracht war. „Wovon träumt er, was denken Sie, Tess?“
„Sie kennen die Geschichte nicht?“ Auf sein unmerkliches Kopfschütteln hin trat Tess zu ihm, fast war ihr dabei, als bewegte sie sich gar nicht aus eigenem Antrieb. Sie konnte nur einfach nicht stehen bleiben, bis sie direkt neben Dante stand, sodass ihre Arme sich berührten. Zusammen sahen sie in die gläserne Schauvitrine.
„Endymion träumt von Selene.“
„Der griechischen Mondgöttin“, murmelte Dante neben ihr, und seine tiefe Stimme vibrierte in ihren Knochen. „Sind sie ein Liebespaar, Tess?“
Ein Liebespaar.
Tief in ihr begann Wärme zu strömen, als sie ihn die Worte sprechen hörte. Er hatte es leichthin gesagt, doch Tess hatte die Frage gehört, als wäre sie einzig für ihre Ohren bestimmt. Das tiefe, kitzelnde Summen seitlich an ihrem Hals verstärkte sich wieder, pochte im Takt ihres Herzschlags, der sich plötzlich beschleunigte. Sie räusperte sich, fühlte sich seltsam ruhelos und aus dem Gleichgewicht gebracht, all ihre Sinne schärften sich.
„Endymion war ein gut aussehender junger Schäfer“, sagte sie schließlich, während sie sich ein Mythologieseminar am College in Erinnerung rief. „Selene war, wie Sie sagten, die Mondgöttin.“
„Ein Mensch und eine Unsterbliche“, bemerkte Dante. Sie konnte seinen Blick auf ihrem Körper spüren, diesen whiskyfarbenen Blick, mit dem er sie ansah. „Keine ideale Kombination. Einer von beiden muss immer sterben.“
Tess sah ihn an. „Das ist einer der seltenen Fälle, wo es gut gegangen ist.“ Sie starrte die Skulptur an, um Dantes Blick und der Bestätigung auszuweichen, dass er sie immer noch ansah. Er stand so nah bei ihr, dass sie die Hitze seines Körpers spürte. Wieder redete sie los, um den Raum mit etwas anderem als der knisternden Spannung zu füllen, die sie umgab. „Selene konnte nur nachts mit Endymion zusammen sein. Sie wollte für immer bei ihm bleiben, also bat sie Zeus, ihrem Geliebten ewiges Leben zu schenken. Er gewährte es ihr und ließ den Hirten in einen ewigen Schlaf versinken. Nun wartet er jede Nacht darauf, dass seine geliebte Selene kommt und ihn besucht.“
„Und wenn sie nicht gestorben sind …“, knurrte Dante, eine Spur Zynismus in der Stimme. „Nichts als Mythen und Märchen.“
„Glauben Sie nicht an die Liebe?“
„Tun Sie’s denn, Tess?“
Sie sah zu ihm auf, erwiderte seinen durchdringenden, prüfenden Blick, der sich so intim wie eine Liebkosung anfühlte. „Ich würde schon gerne daran glauben“, sagte sie, nicht sicher, warum sie es ihm gegenüber zugab. Es verwirrte sie, dass sie ihm das überhaupt gesagt hatte. Plötzlich nervös geworden, schlenderte sie zu einer anderen Vitrine mit Arbeiten von Rodin hinüber.
„Was ist Ihr Interesse an Bildhauerei, Dante? Sind Sie Künstler oder Kunstliebhaber?“
„Weder noch.“
„Oh.“ Dante hielt mit ihr Schritt, blieb neben ihr an der Vitrine stehen. Tess hatte von Anfang an gedacht, dass er aus dem Rahmen fiel, aber als sie ihn nun reden hörte, ihn aus der Nähe sah, musste sie zugeben, dass er etwas unleugbar Kultiviertes an sich hatte. Obwohl er aussah, als sei er einem Actionfilm der Brüder Wachowski entsprungen, spürte sie unter Leder und Muskeln eine Weltgewandtheit, die sie überraschte und faszinierte. Wahrscheinlich mehr als sie sollte. „Was dann? Sind Sie ein Sponsor des Museums?“