Er schüttelte den dunklen Kopf.
„Dann sind Sie vielleicht bei der Security?“, riet sie.
Das würde mit Sicherheit das Fehlen einer formellen Abendgarderobe und diese laserscharfe Intensität erklären, die von ihm ausging. Vielleicht war er von einem dieser hochkarätigen Sicherheitsunternehmen, die von Museen oft engagiert wurden, um bei öffentlichen Anlässen ihren Sammlungsbestand zu schützen.
„Es gibt hier etwas, das ich sehen wollte“, erwiderte er, seine hypnotischen Augen unablässig auf sie gerichtet. „Das war auch der einzige Grund, warum ich gekommen bin.“
Etwas an der Art, wie er sie ansah, als er es sagte – als sähe er direkt in sie hinein –, versetzte ihr einen elektrischen Schlag. Sie war in ihrem Leben oft genug angemacht worden, um zu erkennen, wenn ein Typ eine bestimmte Masche bei ihr versuchte. Aber das hier war anders.
Dieser Mann erwiderte ihren Blick mit einer Intimität, die besagte, dass sie ihm bereits gehörte. Ohne draufgängerisches Getue, ohne Drohung, es war einfach eine Tatsache.
Es brauchte nicht viel dazu, sich seine riesigen Hände auf ihrem Körper vorzustellen, wie sie ihre nackten Schultern und Arme streichelten. Seinen sinnlichen Mund, wie er sich an den ihren presste, seine Zähne, die sie leicht in den Hals bissen.
Exquisit.
Tess starrte zu ihm auf, betrachtete den leicht geschwungenen Bogen seiner Lippen, die sich nicht bewegt hatten, obwohl sie ihn eben sprechen gehört hatte. Er näherte sich ihr, ungeachtet der wogenden Menge – niemand schien sie mehr zu bemerken –, und fuhr ihr mit dem Daumen zärtlich über die Wange. Tess war außerstande, sich zu rühren, als er sich herabbeugte und mit dem Mund die Kurve ihres Kiefers streifte.
Hitze flammte in ihrem Innersten auf, ein langsames Brennen, das den Rest ihres Verstandes zum Schmelzen brachte.
Ich bin heute Abend wegen dir gekommen.
Sie musste ihn falsch verstanden haben – wenn man davon absah, dass er kein Wort gesagt hatte. Und doch war Dantes Stimme in ihrem Kopf, tröstend und beruhigend, wo sie eigentlich beunruhigt sein sollte. Er machte, dass sie ihm glaubte – obgleich ihre Vernunft ihr sagte, dass gerade etwas Unmögliches mit ihr passierte.
Schließ die Augen, Tess.
Ihre Augenlider schlossen sich, und dann presste sich sein Mund in einem weichen, hypnotischen Kuss auf ihren. Das gibt’s doch nicht, das passiert doch nicht wirklich, dachte Tess verzweifelt. Sie ließ es doch nicht einfach geschehen, dass dieser Mann sie küsste, oder? Einfach so, mitten in einem Raum voller Leute?
Aber seine Lippen lagen warm auf ihren, sanft knabberten seine Zähne an ihrer Unterlippe, er sog an ihr und ließ wieder los. Und dann, einfach so, war der plötzliche, überraschende Kuss vorbei. Und Tess wollte mehr.
Gott, wie sie ihn wollte.
Sie konnte ihre Augen nicht öffnen, so sehr hämmerte ihr Blut in den Schläfen, jeder Teil ihres Körpers war heiß vor Begehren und erfüllt von einer seltsamen, unmöglichen Sehnsucht. Tess schwankte ein wenig, keuchend und atemlos, verwundert über diesen plötzlichen Ansturm des Begehrens. Und dann, übergangslos, spürte sie eine kühle Brise auf ihrer Haut, die eine Gänsehaut hinterließ.
„Tut mir leid, das hat jetzt etwas gedauert.“ Bens Stimme ließ sie die Augen rasch aufmachen, als er mit Drinks zu ihr herübergeschlendert kam. „Das ist der reinste Zoo hier. Die Schlange an der Bar wollte gar kein Ende nehmen.“
Erstaunt schaute sie sich nach Dante um. Aber er war fort. Nirgendwo eine Spur von ihm – weder in ihrer Nähe noch in der umherwandernden Menschenmenge.
Ben reichte ihr ein Glas Mineralwasser. Tess trank es schnell aus. Fast hätte sie ihm seinen Champagner abgenommen und den auch noch hinuntergekippt.
„Oh, Scheiße“, sagte Ben und runzelte die Stirn. „Das Glas hat einen Sprung, Tess. Du hast dir die Lippe aufgeschnitten.“
Sie hob die Hand an den Mund, während Ben hektisch nach einem Taschentuch wühlte. Ihre Fingerspitzen waren nass und von tiefem Rot.
„Lieber Himmel, tut mir das leid, ich hätte mir das Glas genauer anschauen …“
„Ist schon in Ordnung, wirklich, nicht so schlimm.“ Ob das stimmte, wusste sie nicht genau. Aber nichts von dem, was sie gerade fühlte, war Bens Schuld. Und sie musste das Glas nicht auf scharfe Kanten untersuchen, an denen sie mit der Lippe hätte hängen bleiben können – sie wusste, es hatte keine. Vielmehr musste sie sich gebissen haben, als Dante und sie … Nun, dieses seltsame Zusammentreffen wollte sie lieber schnell wieder vergessen. „Weißt du, Ben, ich bin etwas müde. Würde es dir was ausmachen, wenn wir es für heute gut sein lassen?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, ist schon okay. Was immer du willst. Lass uns unsere Mäntel holen gehen.“
„Danke, Ben.“
Als sie hinausgingen, warf Tess einen letzten Blick auf die Schauvitrine, in der Endymion schlief, auf die Dunkelheit wartete und darauf, dass seine Geliebte aus einer anderen Welt zu ihm kam.
10
Was zur Hölle hatte er sich nur dabei gedacht?
Aufgewühlt ging Dante im Schatten vor dem Museum hin und her. In extrem schlechter Laune. Fehler Nummer eins war gewesen, überhaupt herzukommen und zu denken, dass er sich die junge Frau nur noch einmal ansehen wollte, die nach dem Gesetz des Vampirvolkes jetzt ihm gehörte. Fehler Nummer zwei? Sie am Arm ihres menschlichen Freundes zu sehen. In ihrem dunkelroten Kleid und den schicken kleinen Sandalen sah sie aus wie ein leuchtender Edelstein. Und zu denken, dass er nicht das Bedürfnis haben würde, sie noch näher anzusehen.
Sie zu berühren.
Sie zu schmecken.
Von diesem Moment an ging es nicht mehr um einen Mangel an Urteilsvermögen, sondern fiel direkt in die Kategorie Katastrophe. Sein Schwanz tobte nach Erleichterung, seine Pupillen waren vor Begierde zu scharfen Schlitzen verengt. Sein Puls raste, seine Fänge waren vor Hunger nach ihrem Fleisch weit ausgefahren – und all das minderte natürlich nicht im Geringsten seinen Frust darüber, dass er eben da drin mit Tess fast die Kontrolle verloren hatte.
Dante konnte sich nur ausmalen, wie weit er bei ihr zu gehen versucht hätte, egal ob die Menge sie beobachtete oder nicht, wenn nicht gerade dann ihr Freund zurückgekommen wäre. Als der Mann von der Bar zurückkam, hatte Dante einen Moment lang recht primitive Gelüste gehegt. Seine Begierde nach Tess löste schon Mordgedanken in ihm aus.
Verdammt.
Er hätte heute Abend gar nicht herkommen dürfen.
Was hatte er sich zu beweisen versucht? Dass er stärker war als das Band des Blutes, das sie jetzt an ihn band?
Alles, was er unter Beweis gestellt hatte, war seine eigene Arroganz. Sein tobender Körper würde ihn den Rest der Nacht daran erinnern. Dieser gewaltige Ansturm unerfüllter Begierde würde ihm nun den Rest der Woche zu schaffen machen.
Und trotzdem fiel es ihm schwer, die Sache ernstlich zu bereuen. Tess war so sanft dahingeschmolzen. Und gegen den Geschmack ihres Blutes auf seiner Zunge, als er ihre Lippe mit seinen Fängen angebissen hatte, kamen ihm die übrigen Symptome seiner Qual wie ein Kinderspiel vor.
Was er fühlte, überstieg das primitive Bedürfnis nach Sex, Lebenserhaltung oder was auch immer. Es war erst sechzehn Stunden her, dass er das letzte Mal Nahrung zu sich genommen hatte, und doch dürstete er nach Tess, als hätte er schon seit sechzehn Tagen nichts mehr zu sich genommen. Vor sechzehn Stunden hatte er das letzte Mal Sex gehabt, und doch gab es nichts, was er jetzt mehr wollte, als sich ganz in sie zu versenken.
Verdammt schlechte Neuigkeiten waren das.
Er musste wieder einen kühlen Kopf bekommen, und zwar schnell.
Er hatte nicht vergessen, dass er heute Nacht noch eine Mission zu erfüllen hatte. Und nun war er mehr als bereit, sich auf etwas anderes zu konzentrieren als das rasende Pochen seiner Libido.