Er griff in die Tasche seines dunklen Ledermantels, zog sein Handy heraus und wählte die Zentrale im Hauptquartier an. „Hat Chase sich schon zur Patrouille gemeldet?“, bellte er in den Hörer, als Gideon abnahm.
„Noch nicht. Er ist erst ab halb elf im Dienst.“
„Wie spät ist es jetzt?“
„Viertel vor neun. Wo steckst du denn überhaupt?“
Dante lachte trocken auf. „Wo ich dachte, dass ich nie sein würde, Bruder.“
Und noch viel zu viel Zeit totzuschlagen, bevor seine zweite Nacht Wer-zieht-schneller mit Harvard begann. Normalerweise hatte Dante sowieso nicht viel Geduld, und momentan erst recht nicht. „Ruf für mich im Dunklen Hafen an“, bat er Gideon. „Sag Harvard, sein Seminar fängt heute früher an. Ich bin unterwegs, um ihn abzuholen.“
Als das Taxi sie abgesetzt hatte, bestand Ben darauf, sie noch bis in ihre Wohnung zu begleiten. Sein Kleinbus parkte auf der Straße, und obwohl Tess gehofft hatte, sich schnell auf dem Gehsteig von ihm verabschieden zu können, war Ben erpicht darauf, den Gentleman zu spielen und sie zu ihrer Wohnungstür im zweiten Stock zu bringen. Seine Schritte hallten hinter ihr, als die beiden die alte hölzerne Treppe hinaufstiegen und schließlich vor dem Apartment 2F stehen blieben. Tess öffnete ihre Abendhandtasche und tastete nach ihrem Schlüssel.
„Ich weiß nicht, ob ich’s dir schon gesagt habe“, sagte Ben weich an ihrem Rücken, „aber heute Abend siehst du einfach hinreißend aus, Tess.“
Sie stöhnte innerlich auf, fühlte sich schuldig, überhaupt mit ihm zur Ausstellung gegangen zu sein. Besonders in Anbetracht dessen, was so unerwartet zwischen ihr und dem Mann geschehen war, den sie dort getroffen hatte.
Dante, dachte sie, sein Name glitt ihr durch den Sinn wie dunkler, weicher Samt.
„Danke“, murmelte sie und steckte den Schlüssel ins Schloss. „Und danke dir für heute Abend, Ben, es war wirklich lieb von dir, mich in die Ausstellung mitzunehmen.“
Als die Tür mit einem Knarren aufschwang, fühlte sie seine Finger mit einer Strähne ihres offenen Haares spielen. „Tess …“
Sie mobilisierte all ihre Widerstandskräfte, um ihm gute Nacht zu sagen, um ihm zu sagen, dass es heute das letzte Mal gewesen war, dass sie als Paar miteinander ausgegangen waren – aber sobald sie sich ihm zuwandte, spürte sie auch schon Bens Mund in einem impulsiven Kuss auf ihren Lippen.
Genauso abrupt wich Tess vor ihm zurück, zu erschrocken, um ihre Reaktion abzumildern. Der verletzte Blick in seinen Augen entging ihr nicht. Das Aufblitzen von bitterem Begreifen, als sie ihre Hand an die Lippen hob und den Kopf schüttelte.
„Ben, es tut mir leid, aber ich kann nicht …“
Er atmete hart aus und fuhr sich mit der Hand durch das goldblonde Haar. „Ach, vergiss es. Mein Fehler.“
„Es ist nur, dass …“ Tess suchte nach den richtigen Worten. „Weißt du, wir können so nicht weitermachen. Ich will, dass wir Freunde bleiben, aber …“
„Ich sagte, vergiss es.“ Seine Stimme war kurz angebunden, scharf. „Du hast mir gesagt, wie du für mich empfindest, Doc. Ich schätze, ich bin einfach etwas schwer von Begriff.“
„Es ist meine Schuld, Ben. Ich hätte heute Abend nicht mit dir ausgehen dürfen. Ich wollte nicht, dass du denkst …“
Sein Lächeln war angespannt. „Ich denke überhaupt nichts. Und jetzt muss ich los. Ich hab noch was zu erledigen.“
Er machte sich auf in Richtung Treppe. Tess folgte ihm auf den Gang hinaus, sie fühlte sich schrecklich. „Ben, geh jetzt nicht so. Warum kommst du nicht einen Moment rein? Lass uns reden.“
Er antwortete nicht einmal, sondern sah sie nur einen langen Augenblick an, dann fuhr er herum und sprang die Treppen hinab. Sekunden später knallte unten die Haustür zu. Tess ging zurück in ihre Wohnung, schloss die Tür hinter sich ab und ging zum Fenster, um zuzusehen, wie Ben in seinen Kleinbus kletterte, den Motor aufheulen ließ und in der Dunkelheit davonbrauste.
Im Schutz seiner dunklen Sonnenbrille und der flackernden Stroboskoplichter des Clubs sah Dante über die tanzende Menschenmenge. Seit er Chase vor ein paar Stunden von seiner Wohnung im Dunklen Hafen abgeholt hatte, waren sie nur einem einzigen Rogue begegnet, einem feingliedrigen Mann, der bei den Obdachlosen nach Beute wilderte. Dante hatte Harvard eine Kurzlektion über die wundersame Wirkung von Titan erteilt, wenn es mit dem verseuchten Blutkreislauf eines Rogue in Berührung kam – der Scheißkerl verdampfte auf der Stelle.
Leider war es nur einer gewesen, und Dante juckte immer noch die Lust auf einen Nahkampf. Bevor diese Nachtpatrouille vorüber war, wollte er zerschlagen und blutig sein. Mit einer etwas anderen Einstellung weitermachen als am Anfang des Abends, als ihm die Situation so entgleist war.
Harvard dagegen sah aus, als bräuchte er eine lange Dusche. Vielleicht eine kalte, dachte Dante, als er seinem Blick durch den Club folgte, wo eine zierliche junge Frau mit langer, blonder Mähne bei ein paar anderen Clubbern stand. Jedes Mal, wenn sie ihr seidiges, flachsblondes Haar über ihre Schulter warf, verspannte der Agent sich etwas mehr. Er beobachtete sie hungrig, folgte jeder ihrer Bewegungen und schien bereit, auf sie loszustürmen.
Vielleicht spürte sie die Hitze, mit der der Vampir sie anstarrte; das menschliche Nervensystem reagierte anscheinend instinktiv auf Blicke aus der anderen Welt. Die Blonde wickelte eine Haarsträhne um den Finger und warf einen langen Blick über die Schulter, sah den Agenten mit dunklen, einladenden Augen an.
„Anscheinend hast du Glück, Harvard. Sieht aus, als wärst du auch ihr Typ.“
Chase knurrte und ignorierte Blondie, als sie sich von ihrer Gruppe löste, um demonstrativ-zufällig an ihm vorbeizuflanieren. „Sie ist nicht, was ich will.“
„Da hättest du mich ja fast getäuscht“, grinste Dante. „Wie ist das mit euch Typen aus den Dunklen Häfen, seid ihr euch zu gut dafür, mal so richtig spitz zu sein?“
„Im Gegensatz zu anderen Angehörigen meiner Spezies finde ich es persönlich entwürdigend, jedem Impuls nachzugeben wie ein Tier, das sich nicht zähmen lässt. Ich versuche, ein bestimmtes Niveau von Selbstkontrolle beizubehalten.“
Da war etwas dran, dachte Dante verärgert. „Wo zum Henker warst du nur mit diesen Weisheiten vor ein paar Stunden, Professor?“
Chase warf ihm einen fragenden Blick zu. „Bitte?“
„Ach nichts.“
Dante wies auf eine gedrängte Ansammlung von Clubbern am anderen Ende des Raumes. Eine kleine Gruppe von jungen Vampiren aus den Dunklen Häfen war darunter, Zivilisten, die weniger interessiert an den Frauen schienen, die begehrliche Signale in ihre Richtung aussendeten, sondern an etwas, das einer der jungen Männer im Mittelpunkt der krakeelenden, rauflustigen Gruppe, offenbar ein Mensch, ihnen auszuteilen schien.
„Da hinten in der Ecke ist was los“, sagte er zu Chase. „Sieht aus, als ob sie Partydrogen verteilen. Los, die nehmen wir uns vor …“
Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, erkannte Dante, was es war, das er dort sah. Und da war auch schon die Hölle losgebrochen.
Einer der Vampire nahm etwas, schniefte es tief durch die Nase ein. Sein Kopf fiel nach hinten, und er ließ einen unterdrückten Aufschrei hören.
„Crimson“, knurrte Chase, aber so weit war Dante auch schon.
Als das Kinn des jungen Vampirs wieder auf seiner Brust zu liegen kam, brüllte er auf, bleckte lange Fangzähne, die Augen glühten gelb. Die umstehenden Menschen kreischten auf und stoben im entstehenden Chaos auseinander. Nur eine der Frauen war nicht schnell genug, um zu entkommen. Der Vampir sprang sie an, warf sich auf sie und schleuderte sie brutal zu Boden. Der Junge war dem plötzlichen Anfall von Blutgier völlig ausgeliefert, seine scharfen Zähne wurden in Vorfreude auf den Tod seiner Beute immer länger.
Zweihundert Menschen waren im Begriff, ein sehr blutiges, sehr gewalttätiges – und sehr öffentliches – Vampirmahl mit anzusehen.