„Bitte“, keuchte Ben und schnappte nach Luft. „Was Sie auch vorhaben, bitte … tun Sie es nicht. Ich kann die Formel besorgen, ich schwöre es Ihnen. Ich werde tun, was immer Sie verlangen!“
„Ja, Mr. Sullivan. Das werden Sie.“
Er bewegte sich so schnell, dass Ben nicht wusste, wie ihm geschah, bis er den harten Biss der Fangzähne in seinem Hals spürte. Ben wand sich, schmeckte sein eigenes Blut, das aus der Wunde lief, hörte die nassen, schmatzenden Geräusche der Kreatur, die sich tief in seine Arterie grub. Bens Kampfgeist nahm mit jedem saugenden Zug ab. Schwebend hing er an der Wand und fühlte, wie das Leben aus ihm wich; fühlte, wie Bewusstsein und Wille sich ausblendeten. Er lag im Sterben, und alles, was ihn einmal ausgemacht hatte, flog weg von ihm in einen Abgrund aus undurchdringlicher Dunkelheit.
„Komm schon, Harvard, oder wie auch immer du wirklich heißt“, sagte Tess und führte den kleinen Terrier über die Straße, als die Ampel auf Grün umsprang.
Nachdem sie um achtzehn Uhr die Klinik dichtgemacht hatte, beschloss sie, einen Spaziergang zu Bens Wohnung im Süden der Stadt zu unternehmen. Es war ein letzter Versuch, ihn selbst zu finden, bevor sie bei der Polizei eine Vermisstenanzeige aufgab. Wenn er wieder im Drogengeschäft war, hatte er es verdient, eingesperrt zu werden. Doch tief in ihrem Innern sorgte sie sich um ihn und wollte versuchen, auf ihn einzuwirken, damit er sich professionelle Hilfe holte, bevor die Dinge noch weiter eskalierten.
Bens Wohnviertel war keine nette Gegend, schon gar nicht, wenn es dunkel war, doch Tess hatte keine Angst. Viele ihrer Klienten stammten aus diesem verrufenen Stadtteil, alles gute, hart arbeitende Menschen. Es hatte sogar eine gewisse Ironie: Wenn in diesem Komplex aus dicht an dicht stehenden Mietskasernen jemand Gefährliches hauste, dann war das wohl am ehesten der Dealer aus Apartment 3b des Gebäudes, vor dem Tess jetzt stand.
Ein Fernseher plärrte aus einer Wohneinheit im ersten Stock und warf ein gespenstisches blaues Licht auf den Gehweg. Tess sah hinauf zu Bens Fensterreihe und suchte nach Anzeichen dafür, dass er zu Hause war. Die schäbigen weißen Jalousien an den Balkon-Schiebetüren und am Schlafzimmerfenster waren heruntergezogen und geschlossen. Die ganze Wohnung lag im Dunkeln. Weder irgendeine Bewegung noch das kleinste bisschen Licht waren in dem Apartment auszumachen.
Oder … war da nicht …?
Obwohl es schwer zu sagen war, hätte sie schwören können, dass eine der Blenden gegen das Fenster gedrückt wurde – als hätte jemand sie bewegt oder wäre an ihnen vorbeigegangen und hätte sie dabei achtlos berührt.
War es Ben? Wenn er zu Hause war, wollte er offensichtlich nicht, dass irgendjemand es erfuhr, sie inbegriffen. Er hatte nicht auf ihre Anrufe reagiert und auch keine ihrer E-Mails beantwortet; warum also sollte sie annehmen, dass es ihm recht war, wenn sie hier auftauchte?
Und wenn er nicht zu Hause war? Was, wenn jemand eingebrochen war? Was, wenn es einer seiner Drogenkontakte war, der auf seine Rückkehr wartete? Was, wenn jetzt gerade jemand oben die Wohnung auf den Kopf stellte und das Flashdrive suchte, das sie in ihrer Manteltasche hatte?
Tess wich von dem Gebäude zurück. Ein ängstliches Kribbeln arbeitete sich ihre Wirbelsäule empor. Verkrampft hielt sie Harvards Leine in der Hand und zerrte ihn schweigend von den dürren, kahlen Sträuchern weg, die den Gehweg säumten.
Dann sah sie es wieder – eindeutig eine Bewegung der Jalousie. Nun glitt eine der Schiebetüren auf dem dunklen Balkon zur Seite, jemand tat heraus. Dieser Jemand war monströs – und definitiv nicht Ben.
„O Scheiße“, flüsterte sie atemlos. Sie bückte sich und nahm den Hund hoch, falls sie unvermittelt schnell rennen musste. Dann kehrte sie dem Gebäude den Rücken.
Leise hastete sie den Gehweg entlang und warf ab und an einen gehetzten Blick über die Schulter. Der Kerl stand noch am Geländer des klapprigen Balkons und spähte hinaus in die Dunkelheit. Sie spürte, dass die wilde Hitze seines Blicks die Nacht durchdrang wie eine Lanze. Seine Augen waren unglaublich hell … sie glühten.
„O mein Gott.“
Tess rannte los, vom Gehweg auf die Straße. Als sie zu Bens Haus zurückblickte, kletterte der Mann im dritten Stock eben über das Geländer; zwei weitere Männer tauchten hinter ihm auf. Der erste schwang seine Beine über den Rand, stieß sich ab und setzte geschickt wie eine Katze auf dem Rasen auf. Mit unfassbarem Tempo kam er hinter ihr her. Seine Geschwindigkeit ließ ihre Bewegungen wie Zeitlupe erscheinen. Ihre Füße bewegten sich so schleppend, als steckte sie in Treibsand fest.
Tess drückte Harvard fest an sich und jagte zwischen den am Randstein geparkten Autos hindurch auf die andere Straßenseite. Sie schaute sich noch einmal um, stellte fest, dass ihr Verfolger nicht mehr zu sehen war und schöpfte für den Bruchteil einer Sekunde neue Hoffnung.
Als sie wieder nach vorn sah, bemerkte sie, dass er irgendwie plötzlich vor ihr war. Keine fünf Schritte von ihr entfernt, versperrte er ihr den Weg. Wie war er so schnell dort hingekommen? Sie hatte ihn nicht einmal gesehen oder auch nur seine Schritte auf dem Gehweg gehört.
Er reckte seinen gewaltigen Schädel und schnüffelte in der Luft wie ein Tier. Er – oder vielmehr es, denn was auch immer das war, es war weit davon entfernt, menschlich zu sein – begann tief in seiner Brust heiser zu lachen.
Tess wich zurück, hölzern und ungläubig. Dies passierte gar nicht. Es konnte nicht sein. Es musste sich um einen kranken Scherz handeln. Es war unmöglich.
„Nein.“ Sie ging rückwärts, weiter und weiter, und schüttelte ungläubig den Kopf.
Der große Mann setzte sich in Bewegung, kam auf sie zu. Tess’ Herz raste in Panik, Adrenalin schoss durch ihren Körper. Sie drehte sich auf dem Absatz um und jagte davon …
Ein weiterer entsetzlich aussehender Mann kam zwischen den Autos hervor und stellte sich ihr in den Weg.
„Hallo Schönheit“, sagte er in schroffem, bösartigem Ton.
Im fahlen Licht der Straßenbeleuchtung blieb Tess’ Blick am geöffneten Mund dieses Kerls hängen. Seine Lippen kräuselten sich und entblößten ein riesiges Paar Fangzähne.
Tess ließ den Hund aus ihrem schlaffen Griff fallen und stieß einen schrecklichen, markerschütternden Schrei aus, der die Nacht zerriss.
„Fahr da vorne links“, sagte Dante vom Rücksitz des Range Rovers zu Tegan. Chase saß hinten, als warte er auf seine Hinrichtung. Eine Erwartung, die Dante jetzt allerdings noch etwas hinauszögerte. „Lass uns noch einen Abstecher in den Süden machen, bevor wir ins Quartier fahren.“
Tegan nickte grimmig und bog an der Ampel ab. „Denkst du, der Dealer könnte zu Hause sein?“
„Ich weiß nicht. Ist dennoch einen Blick wert.“
Dante rieb sich eine merkwürdig kalte Stelle, die hinter seinem Brustbein saß. Es war ein seltsames Gefühl, das auf seine Lungen drückte und ihm das Atmen erschwerte. Die Empfindung war eher abstrakt als körperlich, ein heftiges Zwicken seiner Instinkte, das ihn in höchste Alarmbereitschaft versetzte. Er drückte den automatischen Fensterheber an seiner Seite, sah zu, wie das dunkle Glas herabglitt, und atmete die kalte Nachtluft ein.
„Alles in Ordnung?“, fragte Tegan mit tiefer Stimme vom abgedunkelten Cockpit des Geländewagens her. „Willst du deine Aktion von neulich wiederholen?“
„Nein.“ Dante schüttelte vage den Kopf und schaute aus dem offenen Fenster; beobachtete den Verkehr und die verschwommenen Lichter. Nun blieben die Gebäude des Geschäftsviertels hinter ihnen zurück, die alte Wohngegend im südlichen Boston kam in Sicht. „Nein, dies ist … etwas anderes.“
Der verdammte kalte Knoten in seiner Brust bohrte sich tiefer und wurde eisig, obwohl seine Handflächen schwitzten. Sein Magen krampfte sich zusammen. Adrenalin entlud sich in seinen Venen mit einer plötzlichen, ruckenden Flut.