Was zur Hölle …?
Es war Furcht, die durch ihn hindurchrauschte, wie er jetzt erkannte. Panische Todesangst. Nicht seine eigene, sondern die von jemand anderem.
Hölle und Verdammnis.
„Halt den Wagen an.“
Es war Tess’ Angst, die er spürte. Ihr Schrecken erreichte ihn über die Blutsverbindung, die sie teilten. Sie war da draußen in Gefahr. In Lebensgefahr!
„Tegan, halt den verdammten Wagen an!“
Der Krieger trat auf die Bremse, riss das Lenkrad hart nach rechts und ließ den Rover kaltschnäuzig auf den Absatz der Böschung schleudern. Sie waren nicht allzu weit von Ben Sullivans Wohnung weg; sein Apartment konnte nicht mehr als ein halbes Dutzend Häuserblocks entfernt liegen – aber doppelt so weit, wenn sie sich mit dem Wagen durch das Labyrinth der Einbahnstraßen und Ampelschaltungen von hier nach dort navigieren mussten.
Dante riss die Tür auf und sprang auf den Gehweg. Er sog die Luft tief in seine Lungen und betete darum, die Witterung ihres Dufts aufnehmen zu können.
Da war es.
Er konzentrierte sich auf die zimtig-süße Note unter den tausend anderen vermischten Gerüchen in der frostigen nächtlichen Brise. Die Blutfährte von Tess war sehr schwach, wurde aber rasch stärker – viel zu stark.
Dantes Blut gefror.
Irgendwo nicht weit von da, wo er stand, blutete Tess.
Tegan lehnte sich über den Sitz, den kräftigen Unterarm über das Lenkrad gelegt und sah mit scharfem Blick zu Dante auf. „Dante, Mann – was soll der Scheiß? Was ist los?“
„Keine Zeit“, sagte Dante. Er drehte sich zum Wagen und schmiss die Tür zu. „Ich mach mich zu Fuß auf den Weg. Schaff ihn zu Sullivans Wohnung. Das liegt …“
„Ich kenne den Weg“, sagte Chase vom Rücksitz aus und begegnete Dantes Blick durch das offene Fenster. „Mach schon. Wir sind gleich hinter dir.“
Dante nickte den ernsten Gesichtern einmal zu, drehte sich um und rannte in einem höllischen Tempo los.
Er raste durch Höfe, sprang über Zäune, spurtete durch enge Durchgänge, zog alle Register seiner übermenschlichen Geschwindigkeit. Für die Menschen, an denen er vorbeischoss, war er nichts als ein kalter Luftzug, ein Hauch vom eisigen Novemberwind auf ihren Gesichtern, als er über sie hinweg- und um sie herumraste, einzig und allein auf eines konzentriert: Tess.
Noch eine halbe Seitenstraße runter und er war in Sullivans Wohnblock. In diesem Moment sah Dante den kleinen Terrier, den Tess mit ihren heilenden Händen vom Rand des Todes zurück ins Leben geholt hatte. Der Hund lief allein über den Gehweg und zog die schlaffe Leine hinter sich her.
Ein verdammt schlechtes Zeichen, aber Dante wusste immerhin, dass er jetzt ganz in der Nähe war.
„Tess!“, rief er und betete, dass sie ihn hören konnte.
Betete, dass er nicht zu spät kam.
Er bog um die Ecke eines dreistöckigen Hauses und sprang über liegen gelassene Fahrräder und Spielzeug, das vor dem Haus verstreut war. Ihr Blutduft wurde stärker, Furcht trommelte gegen seine Schläfen.
„Tess!“
Er verfolgte sie wie der Leitstrahl eines Lasers, raste in blinder Panik, als er das tiefe Schnüffeln und Grunzen von Rogues vernahm, die um Beute stritten.
Hölle und Verdammnis. Nein!
Auf der anderen Straßenseite, gegenüber dem Haus, wo Sullivan wohnte, lag Tess’ Handtasche am Bordstein, der Inhalt auf dem Gehweg verstreut. Dante drehte nach rechts ab und rannte einen ausgetretenen Pfad entlang, der zwischen zwei Häusern hindurchführte. Am Ende des Trampelpfads stand ein Schuppen, die Tür schwang träge in den Angeln.
Tess war da drin. Dante wusste es mit einer so tiefen Furcht, dass seine Schritte ins Stocken kamen.
Kurz bevor er den Schuppen erreichte und ihn mit seinen bloßen Händen niederreißen konnte, trat hinter ihm ein Rogue aus dem Schatten und stürzte sich sekundenschnell auf ihn. Dante drehte sich im Fallen, griff eine seiner Klingen und zog sie dem Dreckskerl quer durch das Gesicht. Der Rogue gab ein schauerliches Kreischen von sich und ließ von ihm ab, als sein verdorbener Blutkreislauf eine Kostprobe des tödlichen Titanstahls bekam. Dante rollte sich aus seiner geduckten Haltung und schnellte auf die Füße, während sich der Rogue in Todesqual verkrampfte und zügig in Verdampfung überging.
Auf der Straße röhrte der Motor des schwarzen Range Rovers und kam schlingernd zum Stehen. Ein weiterer Rogue kam aus der Dunkelheit, doch ein Blick auf Tegans eisige Miene genügte, und er entschloss sich, in die entgegengesetzte Richtung zu laufen. Der Krieger machte einen Satz wie eine große Katze und nahm springend die Verfolgung auf.
Chase musste in Sullivans Wohnung weiteren Ärger gesichtet haben, da er seine Pistole entsichert hatte und – kaum wahrnehmbar, als wäre er getarnt – über die Straße rannte.
Dante nahm all das kaum wahr. Er eilte auf die schrecklichen Geräusche zu, die aus dem Schuppen drangen. Die nassen, glitschigen Laute der Nahrungsaufnahme von Vampiren waren ihm nicht fremd, aber die Vorstellung, dass sie Tess verletzen könnten, schraubte seine Wut in nukleare Dimensionen. Er stürmte zu der klappernden Schuppentür und riss sie mit einer Hand auf. Die Tür segelte quer nach hinten auf die leere Parzelle und war augenblicklich vergessen.
Zwei Rogues hielten Tess auf den Boden des Nebengebäudes gedrückt; einer saugte an ihrem Handgelenk, der andere machte sich an ihrem Hals zu schaffen. Sie lag bewegungslos unter ihnen; so reglos, dass Dantes Herz vor Entsetzen gefror, als er die Situation überblickte. Er fühlte, dass sie noch lebte. Er konnte ihren schwachen Puls als leichtes Echo in seinen eigenen Adern hören. Noch wenige Sekunden, und sie hätten sie ausgeblutet.
Dante stieß ein Gebrüll aus, das die umliegenden Gebäude erschütterte. Seine Wut kochte über und brach aus ihm heraus wie ein schwarzer Sturm. Der Vampir an Tess’ Handgelenk prallte mit einem Fauchen zurück, ihr Blut lief ihm über die aufgeworfenen Lippen und färbte seine Fänge scharlachrot. Der Rogue drehte sich mitten in der Luft, flog hoch in die Ecke der Decke und hing dort wie eine Spinne.
Dante verfolgte den Blitz der Bewegung, zog eine Malebranche-Klinge und jagte sie durch die Luft. Die aus Titan geschmiedete Waffe durchbohrte den Hals des Rogues, der kreischend zu Boden stürzte. Dante richtete seinen Hass auf den Größeren, der sich aufgerichtet hatte und ihn herausforderte, ihm seine Beute streitig zu machen.
Der Rogue duckte sich vor Tess’ schlaffen Körper und funkelte Dante mit entblößten Fängen und wilden gelben Augen an. Der Kerl schien unter seiner Blutgier noch jung, die ihn in eine Bestie verwandelt hatte. Wahrscheinlich war er einer der vermissten Zivilisten aus dem Dunklen Hafen.
Es spielte keine Rolle – nur ein toter Rogue war ein guter Rogue – und ganz besonders dieser, der seine Hände und seinen Mund überall auf Tess gehabt und ihr kostbares Leben aus ihr herausgesaugt hatte.
Und sie vielleicht bereits getötet hatte, wenn Dante sie nicht schnell hier rausschaffte.
Sein Blut schrie gellend in seinen Muskeln; der Schmerz von Tess und auch ein Schmerz, der gänzlich seiner war, elektrisierten ihn für den Kampf. Dante legte seine Fänge bloß und stürzte sich mit Gebrüll auf den Rogue. Er wollte am liebsten ein Blutbad anrichten, höllische Vergeltung üben, den Scheißkerl Stück für Stück in Fetzen reißen, ehe er ihn mit einer seiner Klingen ausweidete. Doch das hatte jetzt keine Priorität. Das Einzige, was zählte, war Tess zu retten.
Er packte den zuschnappenden Rachen des Rogues, hebelte seinen Arm hinein und riss ihn hart runter, bis Knochen brachen und Sehnen zerrissen. Als der Mistkerl aufschrie, nahm Dante eine Klinge in die freie Hand und stieß den Stahl in die Brust des Rogues. Den brutzelnden Leichnam stieß er beiseite und eilte zu Tess.
„O Gott.“ Er kniete sich neben sie und hörte ihren schwachen und flachen Atem. Die Wunde an ihrem Handgelenk war hässlich, doch die an ihrem Hals war dramatisch. Ihre Haut war bleich wie Schnee und kühl bei Berührung, als er ihre Hand an seinen Mund führte und ihre schlaffen Finger küsste. „Tess … halte durch, mein Engel. Ich habe dich … ich bring dich hier raus.“