Gideons Augen weiteten sich, aber er sagte nichts weiter. Auch sonst sagte niemand etwas, als Dante die Gruppe stehen ließ und mit Tess in den Armen durch das Labyrinth der vielen Gänge zu seinen privaten Räumen ging. Dort angekommen, brachte er sie ins Schlafzimmer und legte sie vorsichtig auf das Doppelbett. Er dämpfte das Licht, sprach mit sanfter, tiefer Stimme und versuchte, es Tess so bequem wie möglich zu machen.
Mit einem mentalen Befehl ließ er warmes Wasser ins Waschbecken laufen und entfernte vorsichtig die behelfsmäßigen Verbände an Handgelenk und Hals. Die Wunden hatten glücklicherweise zu bluten aufgehört. Die Bissverletzungen in ihrer makellosen Haut sahen grauenhaft aus, aber das Schlimmste schien überstanden.
Als er die hässlichen Spuren betrachtete, die die Rogues hinterlassen hatten, wünschte Dante, er hätte die Gabe von Tess’ heilender Berührung. Er wollte die Verletzungen verschwinden lassen, noch ehe Tess sie sah, aber er konnte solche Wunder nicht bewirken. Sein Blut würde sie von innen her heilen, ihre Körperreserven frisch auffüllen und ihr eine ungeahnte, übernatürliche Lebenskraft verleihen. Wenn sie künftig als seine Gefährtin regelmäßig sein Blut in sich aufnahm, würde sie ewige Gesundheit erlangen. Mit der Zeit würden auch die Narben verheilen. Nicht zügig genug für ihn. Er wollte ihre Angreifer gleich noch einmal in Stücke reißen, wollte sie langsam zu Tode foltern, statt ihnen die Gnade des schnellen Sterbens zu erweisen.
Der Wunsch nach Gewalt, nach Vergeltung an jedem Rogue, der ihr je ein Leid zufügen könnte, brodelte in ihm wie Säure. Dante unterdrückte dieses Verlangen und konzentrierte seine Energie darauf, Tess mit ehrfürchtigen, sanften Händen zu pflegen. Er half ihr aus der blutbefleckten Jacke, indem er zuerst die Ärmel abstreifte und dann ihren schlaffen Körper heraushob. Der Pullover, den sie darunter trug, war ruiniert, die selleriefarbene Wolle an Hals und Ärmel durchtränkt von grellem Rot.
Er würde den Pullover zerschneiden müssen; er sah keine Möglichkeit, ihn ihr über den Kopf zu ziehen, ohne die hässliche Wunde an ihrem Hals zu berühren. Er zog einen der Dolche an seiner Hüfte, fuhr mit der Klinge unter den Saum und trennte das Kleidungsstück sauber auf. Die weiche Wolle fiel zur Seite und enthüllte Tess’ zarte Haut und ihren pfirsichfarbenen Büstenhalter.
So unwillkürlich wie das Atmen regte sich kurz seine Lust, als er ihre Samthaut und die süßen weiblichen Kurven ihres Körpers sah. Ihr Anblick erregte ihn immer unweigerlich, doch sie von den Rogues derart zugerichtet zu sehen, dämpfte sogar die Intensität seiner stärksten Triebe.
Jetzt war sie in Sicherheit, und das war alles, was er wollte.
Dante legte den Dolch auf dem Nachttisch ab, ergriff ihren blutigen Pullover und warf ihn zu der Jacke neben das Bett. Im Zimmer war es warm, aber ihre Haut fühlte sich bei Berührung immer noch kalt an. Er zog eine Ecke der schwarzseidenen Überdecke von der anderen Seite seines großen Bettes und deckte sie damit zu. Dann ging er ins Bad und holte einen eingeseiften Waschlappen und ein frisches Handtuch, um sie zu säubern. Als er zurückkam, hörte er ein leises Klopfen an der offenen Tür. Es klang zu sanft, um von einem der Krieger zu kommen.
„Dante?“ Savannahs dunkle Stimme war noch sanfter als ihr Klopfen. Sie trat ein, den Arm voller Wundsalben und Heilkräuter und die dunklen, freundlichen Augen voller Anteilnahme. Gabrielle, Lucans Gefährtin, folgte ihr. Die Stammesgefährtin mit dem rot schimmernden Haar hielt ein samtweiches Gewand über dem Arm. „Wir haben gehört, was geschehen ist und dachten, wir bringen ein paar Sachen, damit sie es bequemer hat.“
„Ich danke euch.“
Von der Bettkante aus sah er zu, wie die Frauen die mitgebrachten Utensilien ablegten. Sein Augenmerk galt jedoch vor allem Tess. Er hob ihre Hand und wusch mit dem warmen Waschlappen vorsichtig das verschorfte Blut von ihrem Handgelenk. Seine Berührungen waren so zart, wie er es mit seinen großen, unbeholfenen Händen nur vermochte – Händen, die sich besser dafür eigneten, eine Feuerwaffe oder eine Klinge zu führen.
„Geht es ihr gut?“, fragte Gabrielle hinter ihm. „Lucan sagt, du hast ihr von deinem Blut gegeben, um sie zu retten.“
Dante nickte, aber er war nicht stolz auf das, was er getan hatte. „Sie wird mich dafür hassen, wenn sie erst versteht, was es bedeutet. Sie weiß nicht, dass sie eine Stammesgefährtin ist. Sie weiß nicht … was ich bin.“
Er war verblüfft, als er eine kleine Hand auf seiner Schulter spürte, leicht und beruhigend. „Dann musst du es ihr sagen, Dante. Schieb es nicht auf. Vertrau ihr, damit die Wahrheit für sie einen Sinn ergibt, selbst wenn sie sich anfangs weigert, es zu akzeptieren.“
„Ja“, sagte er. „Ich weiß, dass sie ein Recht auf die Wahrheit hat.“
Er war froh über Gabrielles mitfühlende Geste und ihren vernünftigen Ratschlag. Sie sprach immerhin aus Erfahrung. Die Frau war von Lucan erst vor ein paar Monaten mit ihrer eigenen erstaunlichen Wahrheit konfrontiert worden. Obwohl das Paar seitdem unzertrennlich und eindeutig verliebt war, war Lucans und Gabrielles Weg alles andere als leicht gewesen. Keiner der Krieger kannte die Einzelheiten, aber Dante konnte sich vorstellen, dass Lucan mit seinem starren, unzugänglichen Naturell es für beide nicht einfacher gemacht hatte.
Savannah stellte sich neben ihn ans Bett. „Wenn du ihre Wunden gereinigt hast, trag etwas von dieser Salbe auf. Zusammen mit deinem Blut in ihrem Körper wird das helfen, die Heilung zu beschleunigen und die Narben zu lindern.“
„In Ordnung.“ Dante nahm das Gefäß mit dem selbst gemachten Heilmittel und stellte es auf den Nachttisch. „Ich danke dir. Ich danke euch beiden.“
Die Frauen schenkten ihm ein verstehendes Lächeln, dann bückte sich Savannah, um Tess’ verschmutzte Kleidung aufzuheben.
„Ich glaube kaum, dass ihr diese Sachen im Moment von Nutzen sind.“ Sobald sich ihre Finger um die Kleidung schlossen, verzerrte sich Savannahs sanftes Gesicht. Sie zuckte zusammen und schloss gequält die Augen. Kurz hielt sie den Atem an, dann ließ sie ihn mit einem zittrigen Seufzen entweichen. „Himmel, das arme Ding. Der Angriff auf sie war dermaßen … grausam. Wusstest du, dass sie sie beinah ausgeblutet hätten?“
Dante neigte den Kopf. „Ich weiß.“
„Sie war schon fast tot, und dann kamst du und hast … nun gut, du hast sie gerettet, und das ist alles, was zählt.“ Savannah schlug einen heiter-gelassenen Ton an, der allerdings das Unbehagen nicht vollständig überdecken konnte, das sie beim Lesen der grausamen Einzelheiten des Kampfes durchdrungen hatte. „Wenn du irgendetwas brauchst, Dante, frag einfach. Gabrielle und ich helfen gern, so gut wir können.“
Er nickte und machte sich wieder daran, die Wunden von Tess mit dem feuchten Lappen zu reinigen. Er hörte, wie die Frauen das Zimmer verließen, dann wurde der Raum um ihn herum sehr still unter dem Gewicht seiner Gedanken. Er wusste nicht genau, wie lange er an Tess’ Seite auszuharren hatte – bestimmt einige Stunden. Er wusch sie zu Ende und trocknete sie ab, dann legte er sich neben sie ins Bett, um ihren Schlaf zu bewachen und darauf zu hoffen, dass sie bald ihre wunderschönen Augen für ihn aufschlug.
Hundert Gedanken gingen ihm durch den Kopf, als er so da lag, hundert Versprechen, die er ihr machen wollte. Er wollte, dass sie immer in Sicherheit war, immer glücklich. Er wollte, dass sie ewig lebte. Mit ihm. Wenn sie ihn wollte. Oder ohne ihn, wenn das der einzige Weg war. Er würde auf sie aufpassen, solange er dazu imstande war. Und er würde gewährleisten, dass sie für immer einen Platz inmitten des Stammes hatte, falls – oder besser gesagt, wenn – der Tod, der ihm auf Schritt und Tritt folgte, ihn schließlich einholte.
Himmel, dachte er etwa über die Zukunft nach?
Machte Pläne für die Zukunft?
Nachdem er sein ganzes Leben so verbracht hatte, als gäbe es kein Morgen, schien es äußerst befremdlich, dass es nur einer Frau bedurfte, um seine ganze fatalistische Haltung über Bord gehen zu lassen. Er glaubte nach wie vor, dass der Tod an der nächsten Ecke lauerte – wusste es mit derselben Klarheit, mit der seine Mutter ihren Tod und den ihres Gefährten vorhergesehen hatte. Aber diese außergewöhnliche Frau ließ ihn verdammt noch mal hoffen, dass er sich vielleicht irrte.