„Tja, du hast doch gesagt, du willst helfen, so gut du kannst, oder?“
„Hab ich gesagt.“ Chase schmunzelte. „Na gut, in Ordnung. Ich bringe dir den Hund.“
Dante grub die Schlüssel seines Porsche aus der Tasche und warf sie dem anderen Vampir zu. Als Chase sich umdrehte, um sich auf den Weg zu machen, fügte Dante hinzu: „Nebenbei bemerkt, die kleine Bestie hört auf den Namen Harvard.“
„Harvard“, wiederholte Chase gedehnt, schüttelte den Kopf und warf Dante einen spöttischen Blick zu. „Ich glaube kaum, dass das ein Zufall ist.“
Dante zuckte die Achseln. „Schön, dass eure erlauchten akademischen Grade auch mal zu etwas nütze sind.“
„Zur Hölle, Krieger. Du trittst mir wegen meiner Bildung in den Arsch, seit ich an Bord gekommen bin!“
„Hey, ich war noch vergleichsweise freundlich. Tu dir einen Gefallen und betrachte Nikos Zielscheiben nicht zu sehr aus der Nähe, es sei denn, du bist dir deiner Männlichkeit sehr sicher.“
„Arschlöcher“, brummte Chase, aber das Grinsen in seiner Stimme war nicht zu überhören. „Rühr dich nicht von der Stelle. Ich bin demnächst mit deinem Köter zurück. Gibt’s noch was, worum du mich anhauen willst? Jetzt, wo ich meine große Klappe so weit aufgerissen habe, bloß um mit dir quitt zu sein?“
„Da gäbe es tatsächlich noch etwas“, antwortete Dante, schlagartig ernüchtert, als er an Tess dachte und an eine mögliche Zukunft, wie sie ihr zukam. „Aber darüber können wir reden, wenn du zurück bist, okay?“
Chase nickte und verstand die Wendung in der Stimmung.
„Ja. Klar können wir das.“
30
Gideon wartete auf dem Flur, als Chase aus Dantes Quartier kam.
„Wie läuft es da drinnen?“, fragte der Krieger.
„Sie ist immer noch bewusstlos, aber ich glaube, sie ist in guten Händen. Dante will, dass sie wieder in Ordnung kommt, und wenn dieser Krieger sich etwas in den Kopf gesetzt hat, bringt ihn nichts davon ab.“
„Wohl wahr“, lachte Gideon leise. Er hatte einen kleinen Digitalrekorder in der Hand, den er jetzt einschaltete. „Hör zu, ich habe heute Abend per Satellitenkamera einige Rogue-Aktivitäten aufgezeichnet. Mehr als eine dieser Personen scheinen Zivilisten aus dem Dunklen Hafen zu sein. Hast du eine Minute Zeit, um einen Blick darauf zu werfen? Vielleicht kannst du den einen oder anderen für uns identifizieren.“
„Selbstverständlich.“
Chase schaute auf den kleinen Bildschirm. Gideon rief das Programm auf und spulte im schnellen Vorlauf zu einem bestimmten Punkt. Die digitale Nachtsicht-Aufzeichnung zoomte auf ein altersschwaches Gebäude in einem der Industrie-Slums der Stadt und zeigte vier Personen, die aus dem Hintereingang kamen. Dem Gang und der Größe nach mutmaßte Chase, dass es sich um Vampire handelte. Der Mensch, dem sie nachstellten, war ahnungslos.
Der mitgeschnittene Raubzug wurde weiter abgespielt, und Chase sah voller Abscheu zu, wie die vier Jugendlichen aus dem Dunklen Hafen sich an ihr Opfer heranpirschten. Dann griffen sie an, schnell und wild wie blutrünstige Raubtiere, was sie ja auch waren. Dass Angriffe auf Menschen in Gruppen begangen wurden, war für Stammesmitglieder kaum denkbar. Nur Vampire, die zu Rogues geworden waren, jagten und töteten auf diese Art.
„Kannst du diesen Abschnitt näher heranholen?“, fragte er Gideon. Er wollte eigentlich nichts mehr von diesem Blutbad sehen, aber er konnte nicht wegschauen.
„Glaubst du, du hast einen von ihnen erkannt?“
„Ja“, sagte Chase. Sein Magen zog sich zusammen, als die ungepflegte und verwilderte Erscheinung von Camden ins Bild kam. Es war das zweite Mal in nur wenigen Stunden, dass der Junge auf einem Beutezug gesichtet wurde, ein unwiderlegbarer Beweis, dass er nicht mehr zu retten war.
„Sie stammen alle aus dem Dunklen Hafen von Boston. Der da heißt Camden. Er ist der Sohn meines Bruders.“
„Scheiße“, flüsterte Gideon. „Einer dieser Rogues ist dein Neffe?“
„Er hat angefangen, Crimson zu nehmen, und wird seit fast zwei Wochen vermisst. Er ist der wahre Grund, warum ich den Orden aufgesucht habe. Ich brauchte Hilfe, denn ich wollte ihn ausfindig machen und zurückbringen, bevor so etwas wie das da passiert.“
Das Gesicht des anderen Kriegers war tiefernst. „Du weißt, dass alle an diesem Raubzug beteiligten Personen Rogues sind? Sie sind jetzt Junkies, Chase. Hoffnungslose Fälle.“
„Ich weiß. Ich habe Camden heute Abend gesehen, als ich mit Dante und Tegan bei Sullivans Wohnung war. Als ich in seine Augen sah, begriff ich, was er ist. Das hier bestätigt es nur.“
Gideon war eine ganze Weile still und schaltete schließlich das Gerät aus. „Was Rogues betrifft, sind unsere Regeln eindeutig. Das müssen sie sein. Es tut mir leid, Chase, aber wenn uns bei einer Patrouille welche von diesen Jungs über den Weg laufen, gibt es nur eine einzige Option.“
Chase nickte. Er kannte die unverrückbare Haltung des Ordens in Bezug auf Auseinandersetzungen mit Rogues. Nachdem er die letzten Nächte mit Dante auf Patrouille gewesen war, wusste er auch, dass es sein musste. Camden war verloren. Es war jetzt nur noch eine Frage der Zeit, bis die blutgierige Hülle, die von seinem Neffen noch geblieben war, ein gewaltsames Ende fand; sei es im Kampf mit den Kriegern oder durch seine eigenen skrupellosen Handlungen.
„Ich muss an die Oberfläche und etwas für Dante erledigen“, sagte Chase. „Aber ich müsste innerhalb einer Stunde zurück sein. Dann kann ich dir alle Informationen geben, die du brauchst, damit wir diese Rogues von der Straße kriegen.“
„Danke.“ Gideon klopfte ihm auf die Schulter. „Hey, es tut mir leid. Ich wünschte, die Dinge lägen anders. Wir alle haben geliebte Freunde und Angehörige in diesem verfluchten Krieg verloren. Das macht es nicht leichter.“
„Stimmt. Bis später“, sagte Chase und ging zum Fahrstuhl, der ihn zum Fuhrpark des Ordens an der Oberfläche bringen würde.
Als er hinauffuhr, dachte er an Elise. Er hatte, was Camden betraf, Dante und den anderen reinen Wein eingeschenkt, aber Elise gegenüber hielt er mit der Wahrheit immer noch hinterm Berg. Sie musste es erfahren. Sie musste darauf vorbereitet werden, was mit ihrem Sohn passiert war, und sie musste verstehen, was es bedeutete. Chase würde Camden nicht nach Hause bringen. Niemand konnte das. Die Wahrheit würde Elise umbringen, aber sie hatte trotzdem ein Anrecht darauf.
Chase stieg aus dem Fahrstuhl und griff in seine Manteltasche, um sein Handy herauszuholen. Während er zu Dantes Coupe ging, drückte er die Kurzwahltaste. Elise nahm beim zweiten Klingeln ab; ihre Stimme klang besorgt und zugleich voller Hoffnung.
„Hallo? Sterling, geht es dir gut? Hast du ihn gefunden?“
Chase blieb stehen und stieß innerlich Verwünschungen aus. Für einen langen Augenblick war er nicht in der Lage, zu sprechen. Er wusste nicht, wie er formulieren konnte, was er zu sagen hatte. „Ich, also … ja, Elise. Camden ist heute Nacht gesichtet worden.“
„O mein Gott.“ Sie schluchzte auf, dann zauderte sie. „Sterling, ist er … bitte sag mir, dass er am Leben ist.“
Scheiße. Er hatte nicht vorgehabt, das am Telefon zu besprechen. Er wollte sie nur kurz anrufen und wissen lassen, dass er später alles erklären würde, aber Elises mütterliche Sorge kannte keine Geduld. Sie brauchte unbedingt Antworten, und Chase konnte sie nicht länger vor ihr zurückhalten.
„Ach, Elise. Zum Teufel. Es sind keine guten Neuigkeiten.“ Am anderen Ende wurde es still. Chase begann ihr die Fakten zu berichten. „Camden wurde heute Nacht beobachtet, wie er mit einer Gruppe Rogues herumzog. Ich habe ihn in der Wohnung des Menschen, der mit Crimson dealt, selbst gesehen. Er ist in einer schlechten Verfassung, Elise. Er ist … ach verdammt, es ist nicht leicht, dir das zu sagen. Er ist verwandelt, Elise. Es ist zu spät. Camden ist zu einem Rogue geworden.“
„Nein“, sagte sie schließlich. „Nein, ich glaube dir nicht. Du musst dich irren.“