„Wer waren sie, Dante? Die Männer, die mich angegriffen haben – das waren doch keine normalen Menschen, oder?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, das waren keine Menschen. Das waren sehr gefährliche Kreaturen. Blutjunkies. Wir nennen sie Rogues.“
„Blutjunkies“, wiederholte sie, und bei der bloßen Vorstellung drehte sich ihr der Magen um. Sie sah auf ihr Handgelenk, wo ein Bissabdruck rötlich schimmerte, aber bereits zu verheilen begann. „Mein Gott. Das ist es, was sie wollten? Sie haben mein Blut getrunken? Ich kann das nicht glauben. Es gibt nur eine Bezeichnung für diese Art von irrem Verhalten, und das ist Vampirismus.“
Dantes eindringlicher, fester Blick verhieß keine Spur eines Gegenarguments.
„Es gibt keine Vampire“, sagte sie entschieden. „Wir reden hier schließlich über die Wirklichkeit. Es kann sie nicht geben.“
„Es gibt sie, Tess. Nicht so, wie du vielleicht bislang gedacht hast. Nicht als untote, seelenlose Dämonen, aber als eine eigene hybride Gattung. Die Rogues, die dich heute Nacht angegriffen haben, gehören zur schlimmsten Sorte. Sie haben kein Bewusstsein, keinerlei Fähigkeit zu Vernunft oder Selbstbeherrschung. Sie töten wahllos und ohne Unterschied und werden damit weitermachen, wenn sie nicht unter Kontrolle gebracht werden. Das ist das, was ich und die anderen hier tun – wir müssen dafür sorgen, dass die Rogues ausgelöscht werden, bevor sie sich zu einer Seuche entwickeln, wie die Menschheit sie noch nicht erlebt hat.“
„Ach, nun hör aber auf!“ Tess sträubte sich, das Gehörte zu glauben. Doch es fiel ihr schwer, seine haarsträubende Behauptung ganz von der Hand zu weisen. Noch nie hatte er so ernst ausgesehen und geklungen wie jetzt. Und so gnadenlos klar. „Willst du mir erzählen, du bist so eine Art Vampirjäger?“
„Ich bin ein Krieger. Wir befinden uns im Krieg, Tess. Die Lage hat sich ziemlich übel zugespitzt, da die Rogues jetzt Crimson einsetzen.“
„Crimson? Was ist das?“
„Das ist die Droge, die Ben Sullivan in den letzten Monaten auf der Straße verkauft hat. Es verstärkt das Verlangen nach Blut und wirkt enthemmend. Es macht sie zu Mördern.“
„Was ist mit Ben? Weiß er das? Ist das der Grund, warum du neulich Nacht zu seiner Wohnung gegangen bist?“
Dante nickte. „Er sagte, dass er letzten Sommer von einer anonymen Gesellschaft engagiert wurde, um das Zeug herzustellen. Wir haben den Verdacht, dass diese Gesellschaft eine Fassade der Rogues ist.“
„Wo ist Ben jetzt?“
„Ich weiß es nicht, aber ich habe vor, es herauszufinden.“
In Dantes Stimme war eine schneidende Kälte, als er das sagte, und Tess konnte nicht umhin, sich ein wenig um Ben zu sorgen. „Diese Männer, diese Rogues, die mich angegriffen haben, haben seine Wohnung durchsucht.“
„Ja. Vielleicht waren sie auf der Suche nach ihm, aber wir sind uns nicht sicher.“
„Ich glaube, ich weiß vielleicht, wonach sie gesucht haben.“
Dante sah sie mit einem Stirnrunzeln an. „Wie das?“
„Wo ist meine Jacke?“ Tess sah sich im Schlafzimmer um, konnte aber keines ihrer Kleidungsstücke entdecken. Sie trug unter dem Bettzeug, das sie umhüllte, lediglich BH und Slip. „Ich habe neulich etwas in der Klinik gefunden. Ein Flashdrive. Ben hat es in einem der Untersuchungsräume versteckt.“
„Was ist da drauf?“
„Keine Ahnung. Ich hab bis jetzt noch nicht nachgesehen. Es ist in meiner Jackentasche.“
„Scheiße.“ Dante sprang auf die Füße. „Ich bin gleich zurück. Kommst du zurecht?“
Tess nickte. Sie hatte noch Mühe, alles, was passiert war, zu verarbeiten und zu begreifen. All diese unglaublichen, beunruhigenden Neuigkeiten über die Welt, die sie zu kennen geglaubt hatte. „Dante?“
„Ja?“
„Ich danke dir … dass du mir das Leben gerettet hast.“
Etwas Dunkles blitzte in seinen whiskyfarbenen Augen auf und machte seine harschen, ansehnlichen Züge weicher. Er kam zurück, schob sachte eine Hand unter das Haar an ihrem Nacken und zog ihr Gesicht ganz nahe an seins heran. Sein Kuss war süß, beinahe andächtig. „Bleib sitzen, mein Engel. Ich bin gleich wieder da.“
Elise legte ihre Hand an die glatte Wand des Korridors und versuchte, tief Luft zu holen. Ihre andere Hand war gegen ihren Magen gepresst, die Finger lagen gespreizt auf der breiten roten Schärpe ihrer Witwentracht. Schwindel machte ihr die Knie weich, und für einen Moment dachte sie, sie müsste sich gleich hier übergeben. Wo immer sie hier auch war.
Blind vor Abscheu war sie aus dem technischen Labor des Quartiers geflüchtet, entgeistert über das, was man ihr gezeigt hatte. Nachdem sie blindlings erst einen Flur und dann noch einen entlanggelaufen war, hatte sie keine Ahnung mehr, wo sie sich befand. Sie wusste nur, dass sie hier wegwollte.
Sie konnte gar nicht weit genug wegkommen von dem, was sie eben gesehen hatte.
Sterling hatte sie gewarnt, dass die aufgezeichneten Satellitenbilder des Ordens sehr verstörend waren. Elise hatte geglaubt, sie wäre darauf vorbereitet. Doch ihren Sohn mit einigen anderen Rogues beim Abschlachten eines menschlichen Wesens zu sehen, übertraf ihre schlimmsten Erwartungen. Sie wusste, dieser Albtraum würde sie für den Rest ihres Lebens verfolgen.
Keuchend lehnte sie mit dem Rücken an der Wand, dann rutschte sie langsam zu Boden. Sie konnte ihre Tränen und ihr Schluchzen nicht länger zurückhalten. Die Quelle ihrer Verzweiflung und ihres Kummers waren Schuldgefühle: Sie warf sich bitter vor, nicht besser auf Camden aufgepasst zu haben. Sie hatte als selbstverständlich vorausgesetzt, dass er gutmütig war und zu gefestigt, als dass ihm etwas so Abscheuliches widerfahren konnte.
Ihr Sohn konnte unmöglich dieses blutrünstige Monster sein, das sie auf dem Computerbildschirm erblickt hatte. Sein wahres Selbst musste doch noch irgendwo da drin sein, zurückholbar. Noch immer zu retten. Noch immer Camden – ihr glückliches, geliebtes Kind.
„Geht es dir gut?“
Elise fuhr zusammen. Aufgeschreckt von der tiefen Männerstimme, sah sie mit verweinten Augen hoch. Unter einer Mähne lohfarbener Haare starrten smaragdgrüne Augen auf sie herab. Es war einer der beiden Krieger, die am frühen Abend zum Dunklen Hafen gekommen waren, um Sterling mitzunehmen – der kalte, beängstigende von ihnen, der sie festgehalten hatte, als sie Hilfe holen wollte.
„Bist du verletzt?“, fragte er. Peinlich berührt hockte sie auf dem Boden des Korridors, wo sie beschämenderweise zusammengebrochen war, und konnte ihn nur ansehen.
Er trat näher. Sein Gesicht war ausdruckslos, nichts war darin zu lesen. Er war nur halb angezogen – eine lose Jeans hing ungebührlich tief an seinen hageren Hüften, und ein komplett aufgeknöpftes weißes Hemd ließ seinen muskulösen Bauch und Brustkorb frei. Beeindruckende Dermaglyphen bedeckten ihn von der Leiste bis zu den Schultern. Die Dichte und Komplexität der Muster ließ keinen Zweifel daran, dass dieser Krieger ein Stammesmitglied der ersten Generation war, was bedeutete, dass er zu den Aggressivsten und Mächtigsten der Vampirrasse gehörte. Es gab nicht viele Gen-Eins-Vampire. Elise, die schon seit vielen Jahrzehnten in den Dunklen Häfen lebte, hatte noch nie zuvor einen gesehen.
„Ich bin Tegan“, sagte er und streckte seine Hand aus, um ihr aufzuhelfen.
Dieser Kontakt erschien ihr eindeutig zu forsch, zumal die riesigen Hände dieses Mannes erst vor wenigen Stunden ihre Schultern und ihre Taille umspannt gehalten hatten. Die nachklingende Hitze seiner Berührung hatte sie noch lange danach gespürt, als hätten sich die Umrisse seiner starken Finger in ihr Fleisch gebrannt.
Sie kam aus eigener Kraft auf die Beine und wischte sich ungeschickt die Tränen aus dem Gesicht. „Ich bin Elise“, sagte sie und deutete ein höfliches Kopfnicken an. „Ich bin Sterlings Schwägerin.“
„Bist du vor Kurzem Witwe geworden?“, fragte er, den Kopf leicht zur Seite geneigt, während sein durchdringender Blick sie Zentimeter für Zentimeter zu mustern schien.