Elise nestelte nervös an ihrer langen, scharlachroten Schärpe herum. „Ich habe meinen Gefährten vor fünf Jahren verloren.“
„Du bist immer noch in Trauer.“
„Ich liebe ihn noch.“
„Das tut mir leid“, sagte er ruhig, seine Miene ausdruckslos. „Und das mit deinem Sohn tut mir auch leid.“
Elise sah zu Boden. Sie war noch nicht bereit für Anteilnahme und Beileid – nicht, solange sie sich noch an die Hoffnung klammerte, Camden könnte zurückkommen.
„Es ist nicht deine Schuld. Du kannst nichts dafür, dass er damit angefangen hat. Und du bist auch nicht dafür verantwortlich, dass er nicht mehr damit aufhören wird.“
„Was?“, murmelte sie, verblüfft, dass Tegan von ihrem Schuldgefühl wusste, ihrer verborgenen Scham. Eine Handvoll Gen-Eins-Männer verfügte über die Fähigkeit des Gedankenlesens, aber sie hatte keinen eindringenden Geist wahrgenommen, und nur die allerschwächsten Menschen konnte man telepathisch scannen, ohne dass sie etwas davon mitbekamen.
„Woher können Sie …“
Dann verstand sie plötzlich, und es erklärte zugleich das seltsame Summen ihrer Sinne, als er sie früher am Abend berührt hatte, und die anhaltende Hitze, die seine Finger auf ihrer Haut hinterlassen hatten. Er konnte alle Gefühle sehen. Er sah sie entblößt, ohne Schutz und Fassade.
„Tut mir leid“, sagte er. „Es ist etwas, das ich nicht kontrollieren kann.“
Elise blinzelte ihre Verlegenheit weg. Sie wusste, was es hieß, mit einer solchen Gabe geschlagen zu sein. Ihre eigene übernatürliche Fähigkeit hatte sie zu einer Gefangenen der Dunklen Häfen gemacht – unfähig, das Bombardement der negativen Gedanken zu ertragen, die auf sie einstürmten, wann immer sie unter Menschen war.
Aber der Umstand, dass sie die Last einer ähnlichen Heimsuchung mit diesem Krieger verband, machte seine Gegenwart für sie nicht angenehmer. Und die Sache mit Camden – das tiefe Elend, das sie befiel, wenn sie daran dachte, was er da draußen trieb, verstrickt in die Gewalt der Rogues – sie musste dringend allein sein.
„Ich sollte jetzt gehen“, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Tegan. „Ich sollte … ich muss hier weg. Ich kann hier nicht bleiben.“
„Willst du nach Hause?“
Sie zuckte die Achseln, schüttelte dann den Kopf, unschlüssig, was sie wollte. „Irgendwohin“, flüsterte sie. „Ich möchte einfach nur weg.“
Tegan war näher herangekommen, ohne dass sich auch nur die Luft bewegt hatte. „Ich fahre dich“, sagte er.
„Oh nein, ich meine nicht …“
Sie blickte den Korridor entlang in die Richtung, aus der sie gekommen war. Sie sollte wohl versuchen, Sterling zu finden. Ein Teil von ihr nahm bereits Anstoß daran, dass sie überhaupt in Gesellschaft dieses Kriegers war. Allein, ohne Begleitung, mit ihm irgendwohin zu gehen schien undenkbar.
„Hast du Angst, ich könnte dich beißen, Elise?“, fragte er. Dabei kräuselte sich ganz leicht ein Winkel seines sinnlichen Mundes – das allererste Anzeichen dafür, dass er womöglich so etwas wie Gefühle besaß.
„Es ist spät“, bemerkte sie und suchte nach einer höflichen Ausrede, um sein Angebot abzulehnen. „Es muss bereits kurz vor Sonnenaufgang sein. Ich möchte nicht, dass Sie sich in Gefahr begeben …“
„Dann fahre ich ganz schnell.“ Jetzt lächelte er, ein breites Grinsen, das deutlich sagte: Er wusste genau, dass sie ihm auszuweichen versuchte, und er gedachte nicht lockerzulassen. „Na, komm. Lass uns mal ein Weilchen verschwinden.“
Bei allem, was ihr heilig war – als er ihr die Hand entgegenstreckte, zögerte sie nur eine Sekunde, dann griff sie zu.
32
Dante war jetzt schon bedeutend länger als ein paar Minuten weg, und das Warten machte Tess verrückt. Sie hatte so viele Fragen, so viel in ihrem Geist zu sortieren. Und ungeachtet des belebenden Summens tief in ihrem Körper fühlte sie sich äußerlich ausgelaugt, zerschlagen.
Eine heiße Dusche in Dantes weiträumigem Badezimmer half einen Teil dieses Gefühls wegzuwaschen. Auch die frische Wäsche, die er für sie im Schlafzimmer bereitgelegt hatte, tat wohl. Unter den Augen von Harvard, der sich auf dem Bett zusammengerollt hatte, schlüpfte Tess in die braune Cordhose und das braune Strickhemd und setzte sich dann hin, um ihre Schuhe anzuziehen.
Die Kratzer und kleinen Blutspritzer darauf waren ein sichtbares Protokoll des Überfalls, den sie durchlitten hatte. Ein Überfall, das wollte sie Dante gern glauben, ausgeführt von nichtmenschlichen Kreaturen mit einem Durst – einer Sucht – nach Blut.
Vampire.
Es musste doch eine vernünftigere Erklärung geben, eine, die sich auf Fakten stützte, nicht auf Folklore. Tess wusste, dass so etwas unmöglich war, und doch wusste sie, was sie erlebt hatte. Sie wusste, was sie gesehen hatte, als ihr erster Angreifer in Bens Stockwerk vom Balkon sprang und elastisch wie eine Katze auf den Füßen landete. Sie wusste, was sie gefühlt hatte, als dieser Mann und der zweite, der zu ihm gestoßen war, sie vom Bürgersteig in den alten Schuppen zerrten. Sie hatten sie gebissen wie rasende Raubtiere. Sie hatten ihr mit riesigen Fängen die Haut durchbohrt und ihr das Blut ausgesaugt, sich an ihr satt getrunken wie in einem Horrorfilm.
Wie die Vampire, als die Dante sie bezeichnet hatte.
Wenigstens war sie jetzt in Sicherheit, wo immer Dante sie auch hingebracht hatte. Sie sah sich in dem großen Schlafzimmer um. Die wenigen schlichten Möbel kündeten von Understatement. Alles wirkte sehr männlich, mit klaren Linien und dunklen Oberflächen. Die einzige Schwelgerei war das Bett. Es war riesig und beherrschte den Raum, seine mattschwarzen Seidenlaken weich und schimmernd wie Rabenschwingen.
Im angrenzenden Wohnzimmer fand Tess vergleichbar geschmackvolle Einrichtungsgegenstände vor. Dantes Quartier fühlte sich behaglich und unaufgeregt an, wie der Mann selber. Der ganze Ort wirkte heimelig, allerdings nicht wie ein Haus. Es gab in keiner der Wände ein Fenster, nur teuer aussehende zeitgenössische Kunst und gerahmte Fotografien. Er hatte erwähnt, dass dieser Ort ein Hauptquartier war, und nun fragte sich Tess, wo genau sie sich befand.
Sie spazierte aus dem Wohnzimmer in einen gefliesten Vorraum. Neugierig öffnete sie die Tür und sah in einen Korridor aus schimmerndem weißen Marmor. Tess spähte den langen Flur entlang, dann zur anderen Seite. Nichts als ein leerer, gewundener Tunnel aus poliertem Stein. Auf dem Boden waren in den schneeweißen Marmor Intarsien eingelegt, offenbar eine Reihe von Symbolen – ineinandergreifende geometrische Bögen und Wirbel, ausgeführt in Obsidian. Sie waren ungewöhnlich und faszinierend, manche von ihnen bildeten ähnliche Muster wie die schönen, vielfarbigen Tattoos, die Dantes Oberkörper und Arme zierten.
Tess bückte sich, um die Intarsien genauer anzusehen. Sie war so in die Betrachtung der Zeichen versunken, dass sie Harvard nicht bemerkte, bis der Terrier an ihr vorbeischlüpfte und den Korridor entlangtrottete.
„Harvard, komm zurück!“, rief sie ihm nach, aber der Hund lief weiter und verschwand um die nächste Kurve des gewundenen Flures.
Verflucht.
Tess stand auf, warf einen Blick auf den leeren Flur und folgte dem Hund. Die Jagd führte sie ein langes Stück Flur hinunter, dann das nächste. Jedes Mal, wenn sie den streunenden Terrier fast erwischt hatte, entwischte er ihrem Griff und trabte weiter durch das endlose Netz aus Korridoren, als ob sie ein Spiel spielten.
„Harvard, du kleiner Gangster! Stopp jetzt!“, flüsterte sie scharf, aber leider ergebnislos.
Sie wurde jetzt ungeduldig, auch befielen sie Zweifel, ob sie sich hier allein herumtreiben sollte. Obwohl sie sie nicht sehen konnte, war sie sicher, dass hinter den undurchsichtigen Glaskugeln, die alle paar Schritte an der Wand montiert waren, Sicherheitskameras jede ihrer Bewegungen registrierten.
Es gab nirgends Hinweise, die etwas über den jeweiligen Standort verrieten oder wohin all die labyrinthischen Gänge führen mochten. Wo immer das war, was Dante sein Zuhause nannte, es war ausgerüstet wie eine Hightech-Regierungszentrale. Das wiederum machte seine haarsträubenden Behauptungen über einen Untergrundkrieg und die Existenz gefährlicher Nachtgeschöpfe nur glaubwürdiger.