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Tess hielt inne und sah ihn schweigend an. Er brauchte Hilfe, und das nicht zu knapp – und er brauchte sie jetzt. Leider sah es so aus, als wäre sie derzeit seine einzige Chance. Was sie hier für ihn tun konnte, wusste sie nicht genau, aber vielleicht konnte sie ihn immerhin notdürftig zusammenflicken, ihn auf die Beine bringen und zusehen, dass er verdammt noch mal von hier verschwand.

„Na schön“, sagte sie. „Also erst mal doch kein Notarzt. Hören Sie, äh – ich bin auch Ärztin. Jedenfalls mehr oder weniger. Das hier ist meine Tierklinik. Ist es für Sie in Ordnung, wenn ich ein bisschen näher komme und Sie mir mal ansehe?“

Das Zucken seines Mundes und sein schmerzhaftes Ausatmen ließ sie als ein Ja gelten.

Vorsichtig ließ sich Tess neben ihm auf dem Boden nieder. Vom anderen Ende des Raumes hatte er schon sehr groß ausgesehen, aber jetzt, wo sie neben ihm kauerte, sah sie, dass er wirklich ein Riese war, bestimmt zwei Meter groß und über hundert Kilo Gewicht, mit schwerem Knochenbau und bepackt mit fester Muskelmasse. Ob er Bodybuilder war? Einer dieser Machotypen, die ihr Leben im Kraftraum verbrachten? Aber irgendetwas an ihm sagte ihr, dass dem nicht so war. Mit seinem grimmig geschnittenen Gesicht wirkte er eher, als könnte er so einen aufgepumpten Eisenstemmer zum Mittagessen verspeisen.

Vorsichtig tastete sie sein Gesicht ab, suchte nach Brüchen. Sein Schädel war heil, aber sie spürte, dass er eine leichte Gehirnerschütterung erlitten haben musste. Wahrscheinlich stand er immer noch unter Schock.

„Ich sehe mir nur mal Ihre Augen an“, informierte sie ihn, dann hob sie eines seiner Augenlider an.

Grundgütiger Himmel.

Die geschlitzte Pupille inmitten der riesigen, hellbernsteinfarbenen Pupille erschreckte sie. Vor dem unerwarteten Anblick zuckte sie zurück.

„Was zum …“

Dann dämmerte ihr die Erklärung, und prompt kam sie sich wie eine komplette Idiotin vor. So die Nerven zu verlieren.

Gefärbte Kontaktlinsen.

Beruhige dich, sagte sie sich. Ihre Nervosität war völlig grundlos. Der Typ musste auf einer Halloweenparty gewesen sein, die irgendwie außer Kontrolle geraten war. Solange er diese lächerlichen Dinger trug, konnte sie über seine Augen nicht viel sagen.

Vielleicht hatte er in wilder Gesellschaft gefeiert; er sah groß und gefährlich genug aus, um Mitglied einer Gang zu sein. Aber selbst wenn er heute Nacht mit irgendwelchen zugedröhnten Bikern herumgezogen war, Anzeichen von Drogeneinwirkung konnte sie nicht an ihm entdecken. Sie roch auch keinen Alkohol. Nur einen schweren Qualmgeruch, und der kam nicht von Zigaretten.

Er roch, als wäre er durch Feuer gegangen. Und danach in den Mystic River gesprungen.

„Können Sie Ihre Arme und Beine bewegen?“, fragte sie ihn und machte sich daran, seine Gliedmaßen zu inspizieren. „Denken Sie, Sie haben was gebrochen?“

Tess tastete mit den Händen seine schweren Arme ab, spürte aber keine Frakturen. Auch seine Beine waren noch ganz, außer der Schusswunde in seiner linken Wade hatte er dort keine ernsthaften Verletzungen. Vermutlich ein glatter Durchschuss, die Kugel war auf der anderen Seite wieder ausgetreten. Das Gleiche bei der Schusswunde in seinem Unterbauch. Da hatte er großes Glück gehabt.

„Ich würde Sie jetzt gern in einen meiner Untersuchungsräume bringen. Glauben Sie, dass Sie gehen können, wenn ich Sie stütze?“

„Blut“, stöhnte er, seine Stimme war heiser. „Brauche es … sofort.“

„Tut mir leid, aber da kann ich Ihnen nicht helfen. Dazu müssen Sie in ein Krankenhaus. Jetzt müssen wir Sie erst einmal von diesem Boden hochkriegen und Ihnen diese ruinierten Kleider ausziehen. Gott weiß, was für Bakterien Sie sich da draußen im Wasser eingefangen haben.“

Sie legte ihm die Hände unter die Achseln und begann ihn hochzuziehen, ihn zum Stehen zu ermutigen. Er knurrte, tief und grollend, wie ein Tier. Als das Geräusch aus seinem Mund kam, erhaschte Tess hinter der gekräuselten Oberlippe einen Blick auf seine Zähne.

Ups. Das ist komisch.

Waren seine monströsen Fangzähne etwa … Reißzähne?

Seine Augen öffneten sich, als hätte er ihr Unbehagen gespürt. Mit einem Mal war Tess in durchdringendes, bernsteinfarbenes Licht getaucht, die glühende Iris sandte einen panischen Blitz in ihre Brust. Zum Teufel, das waren keine Kontaktlinsen.

Guter Gott. Mit diesem Mann stimmt etwas ganz und gar nicht.

Er packte ihre Oberarme. Tess schrie alarmiert auf. Sie versuchte sich aus seinem Griff zu winden, aber er war zu stark. Hände so unnachgiebig wie Schraubstöcke schlossen sich fester um sie und zogen sie näher. Tess schrie, ihre Augen geweitet vor Angst, ihr Körper schreckensstarr.

„O Gott, nein!“

Er wandte sein blutiges, zerschlagenes Gesicht ihrem Hals zu. Holte scharf Atem, als er sich ihr näherte, seine Lippen ihre Haut berührten.

„Psssst.“ Warme Luft wehte um ihren Hals, als er mit einem tiefen, schmerzerfüllten Flüstern sprach. „Ich … tu dir … nicht weh. Versprochen …“

Tess hörte seine Worte.

Fast glaubte sie ihm.

Bis zu dem Augenblick unsagbaren Schreckens, als er seine Lippen öffnete und seine Zähne tief in ihr Fleisch schlug.

4

Blut schoss aus den beiden punktförmigen Bisswunden am Hals der jungen Frau in Dantes Mund. Er trank in tiefen, gierigen Zügen, unfähig, den wilden Teil in ihm zurückzuhalten, der nur Trieb und Verzweiflung kannte. Es war das Leben selbst, das auf seiner Zunge pulsierte und seine ausgedörrte Kehle hinabrann, seidig, zimtig süß – und warm, so warm.

Vielleicht war die Stärke seiner Gier der Grund dafür, dass ihr Geschmack ihm so unvergleichlich vorkam. Sie war unglaublich, perfekt, vollkommen. Was immer der Grund war, es war ihm gleich. Er trank von ihr, mehr und mehr, er brauchte ihre Wärme, jetzt, wo er durchgefroren war bis ins Mark.

„O Gott, nein!“ Die Stimme der Frau war heiser vor Angst. „Bitte! Lassen Sie mich los!“

Sie klammerte sich reflexartig an seine Schultern, ihre Finger krallten sich in seine Muskeln. Doch der Rest ihres Körpers wurde in seinen Armen langsam ruhig, die hypnotische Macht seines Bisses wiegte sie in eine willenlose Trance. Sie seufzte tief und lang, ihr Körper wurde schwer und schlaff. Er ließ sie unter sich auf den Boden gleiten und nahm sich die Nahrung, die er so dringend brauchte.

Jetzt spürte sie keine Schmerzen mehr. Nicht, seit seine Zähne ihre Haut durchbrochen hatten, das war ein scharfer Schmerz gewesen, der aber schnell nachgelassen hatte. Der einzige Schmerz, der jetzt noch existierte, war Dantes Schmerz. Sein Körper zitterte von der Schwere seiner Verletzungen, von der Gehirnerschütterung dröhnte ihm der Kopf, sein Rumpf und seine Gliedmaßen waren an so vielen Stellen verwundet, dass sie nicht zu zählen waren.

Es ist gut. Hab keine Angst.

Du bist in Sicherheit. Ich verspreche es dir.

Er schickte ihr diese beruhigenden Gedanken, selbst als er sie noch fester gepackt hielt, sie noch fester in den Käfig seiner Arme schloss, sein hungriger Mund noch härter an ihrer Wunde saugte.

Trotz der Wildheit seines Durstes, die von der Schwere seiner Verletzungen noch gesteigert wurde, war es die Wahrheit. Außer dem ersten Biss, der sie so erschreckt hatte, würde er der jungen Frau kein Leid antun.

Ich nehme mir nur, was ich brauche. Dann werde ich gehen, und du wirst mich vergessen.

Schon spürte er, wie seine Kraft zu ihm zurückkehrte. Zerrissenes Fleisch begann von innen heraus zu heilen. Schuss- und Splitterwunden schlossen sich.

Verbrennungen wurden kühl und verblassten.

Seine Schmerzen ließen nach.

Jetzt zwang er sich, langsamer zu trinken. Dabei raubte ihr Geschmack ihm fast den Verstand. Die exotische Note im Duft ihres Blutes hatte er schon beim ersten Zug bemerkt, aber nun, als sein Körper sich verjüngte und seine Sinne mit voller Kraft zu ihm zurückkehrten, konnte Dante nicht anders, als die Süße seiner unfreiwilligen Blutwirtin zu kosten und zu genießen.