Tess folgte dem Hund um eine scharfe Rechtskurve, die in einen anderen Flügel des Hauptquartiers zu führen schien. Endlich wurde Harvards weitere Flucht vereitelt. Ein Paar Schwingtüren versperrte ihm am Ende der Halle den Weg. Ihre kleinen quadratischen Fenster auf Augenhöhe hatten Milchglasscheiben, die keinen Einblick gewährten.
Tess näherte sich vorsichtig. Sie wollte weder den Hund erneut aus ihrer Reichweite scheuchen noch wusste sie, was sich auf der anderen Seite dieser Türen befand. Es war still hier. Nichts außer endlosem weißen Marmor, wo immer sie auch hinsah. In der Luft lag ein Hauch von Desinfektionsgeruch. Irgendwo in der Nähe nahmen ihre Ohren ein schwaches elektronisches Piepsen wahr, wie von medizinischem Gerät, sowie einen anderen rhythmisch-metallischen Klang, den sie nicht einordnen konnte.
War dies so eine Art Krankenstation? Es fühlte sich alles steril genug an, aber es gab keinerlei Lebenszeichen von Patienten, kein herumhuschendes Personal. Hier war überhaupt niemand, soweit sie das sagen konnte.
„Komm her, du kleines Biest“, knurrte sie und bückte sich direkt vor der Doppeltür, um den Hund hochzunehmen.
Harvard mit einem Arm an die Brust gepresst, drückte Tess einen der Türflügel einen Spaltbreit auf und linste neugierig hindurch. Noch ein Korridor. Gedämpftes Licht erzeugte ein sanftes Halbdunkel. Sie erkannte eine Reihe geschlossener Türen auf jeder Seite des Gangs. Langsam schlüpfte sie durch die Schwingtür und wagte sich ein paar Schritte hinein.
Sofort entdeckte sie die Quelle des Piepsens: Eine Konsole digitaler Anzeigetafeln war zu ihrer Linken an die Wand montiert. Das Arrangement aus Kontrolllämpchen war dunkel bis auf eine Handvoll in einem Gitter auf der unteren Seite des Schirms. Das schien so eine Art EKG-Monitor zu sein, auch wenn sie noch nie etwas Vergleichbares gesehen hatte. Aus dem hintersten Raum am Ende des Flures erklang ein sich beständig wiederholendes Rasseln und Wummern wie von etwas Schwerem.
„Hallo?“, rief Tess in die Leere. „Ist hier jemand?“
Sobald die Worte ihren Mund verließen, verstummten alle anderen Geräusche, sogar das Piepsen vom Monitor. Sie blickte auf die Tafel, und im selben Moment erloschen die Lichter. Als hätte jemand die Verbindung unterbrochen, die zum Inneren des hinteren Raumes bestand.
Ein unbehagliches Gefühl kroch ihr das Rückgrat hinauf. Harvard begann sich in ihrem Arm zu winden und zu jaulen. Er zappelte sich frei, sprang zu Boden und rannte zurück in den Flur. Tess konnte den Schrecken, der sie erfasst hatte, nicht benennen, aber sie konnte hier auch nicht weiter herumstehen und einen Namen dafür suchen.
Sie machte kehrt und marschierte zu den Schwingtüren zurück. Im Gehen wandte sie den Kopf, um zu sehen, ob sich hinter ihr etwas rührte. Da spürte sie eine plötzliche Temperaturveränderung – einen kühlen Lufthauch auf ihrer Haut, der ihr den Nacken hinaufzog.
„Scheiße“, flüsterte sie, jetzt mehr als nur nervös.
Sie streckte die Hand aus, um die Tür aufzustoßen, und zuckte zurück, als ihre Handfläche etwas Warmes, Unbewegliches berührte. Sie fuhr zusammen und riss erschrocken den Kopf herum. Ihr Blick prallte gegen das grausig zernarbte Gesicht und den Brustkorb eines riesigen, muskulösen Mannes.
Nein, kein Mann.
Ein Monster mit riesigen Klauen und feurig glühenden Bernsteinaugen, wie die ihrer Angreifer von der Straße.
Ein Vampir.
Ein Wirbelsturm lebhafter, grässlicher Erinnerungen bombardierte Tess mit Eindrücken des Rogue-Überfalls: brutale Finger, die sich in ihre Arme bohrten, sie niederdrückten; scharfe Zähne, die rasend in sie eindrangen, das endlose, fieberhafte Ziehen an ihren Venen; entsetzliches tierisches Grunzen und Knurren, als die Biester von ihr tranken. Sie sah das Pflaster im Mondschein, den dunklen Seitenweg, den verrotteten Schuppen, in dem sie zu sterben glaubte.
Doch dann, so plötzlich wie unpassend in ihrer Lage, sah sie den kleinen Lagerraum im hinteren Teil ihrer Klinik. Da lag ein großer Mann mit dunklen Haaren auf den Boden hingestreckt. Er blutete. Er starb. Sein Körper war voller Schussverletzungen und anderer Wunden. Sie beugte sich über ihn …
Nein, das gehörte nicht zu ihren Erinnerungen. Es war gar nicht passiert … oder doch?
Sie hatte keine Zeit, ihre Gedanken zu ordnen. Der Vampir, der ihr den Fluchtweg verstellt hatte, kam auf sie zu. Hoch aufgerichtet nahm er sie mit wilder Wut in den Blick, die enormen Fangzähne tödlich weiß und scharf genug, um sie in Fetzen zu reißen.
Dante stand in Gideons und Savannahs Arbeitszimmer und wartete auf ein Urteil über das Flashdrive, das Tess in ihrer Jackentasche gehabt hatte. „Glaubst du, du kannst das Ding entschlüsseln, Gid?“
„Bitte.“ Der blonde Vampir bedachte ihn mit einem schelmischen Seitenblick. „Du beliebst zu scherzen“, sagte er mit schwerer Betonung auf seinem verblichenen englischen Akzent. Er hatte das Flashdrive schon in seinen Computer gestöpselt, und seine Finger flogen über die Tastatur. „Ich hab mich ins FBI gehackt, in die CIA, in unseren eigenen IID und in jede andere hackersichere Datenbank, die es gibt. Das hier wird ein Kinderspiel.“
„Ja? Lass mich wissen, was du entdecken kannst. Ich muss weiter. Tess wartet auf mich …“
„Nicht so schnell“, sagte Gideon. „Ich bin fast drin. Glaub mir, das wird nicht lange dauern, vielleicht fünf Minuten. Lass es uns spannend machen. Gib mir zwei Minuten und dreißig Sekunden als Maximum. Ab jetzt.“
Neben ihm lehnte Savannah in dunklen Jeans und schwarzem Sweater an einem antiken geschnitzten Mahagonipult. Sie lächelte und rollte die Augen: „Es ist der Sinn seines Lebens, uns zu beeindrucken, das weißt du doch.“
„Das wäre ja zu ertragen, wenn der Mistkerl nicht immer recht behalten würde“, stöhnte Dante in gespielter Verzweiflung.
Savannah lachte. „Willkommen in meiner Welt.“
„Schade, dass du keine Computerdateien durch Handauflegen entziffern kannst“, sagte er. „Dann bräuchten wir uns nicht mit diesem Kerl abzugeben.“
„Sei’s drum“, sie seufzte dramatisch. „Psychometrie funktioniert so nun mal nicht, jedenfalls nicht bei mir. Ich kann dir sagen, was Ben Sullivan angehabt hat, als er den Flashdrive bei sich trug, ich kann den Raum beschreiben, in dem er war, seinen Bewusstseinszustand, aber ich kann nicht in elektronische Schaltkreise eindringen. Gideon ist in diesem Fall unsere beste Chance.“
Dante zuckte die Achseln. „Dann haben wir wohl Pech, was?“
Am Computer hackte Gideon eine letzte Salve in die Tasten, dann lehnte er sich zurück und faltete die Hände hinter dem Kopf. „Ich bin drin. Das waren eine Minute und neunundvierzig Sekunden, um exakt zu sein.“
Dante umrundete ihn, um auf den Bildschirm zu schauen. „Was haben wir denn da?“
„Datenpakete, Tabellenkalkulationen, Flussdiagramme. Pharmazeutische Tabellen.“ Gideon bewegte die Maus und klickte eine der Dateien auf. „Sieht aus wie ein chemisches Experiment. Braucht jemand ein Rezept für Crimson?“
„Gott im Himmel! Das ist es?“
„Darauf würde ich wetten.“ Mit finsterem Blick klickte sich Gideon durch weitere Dateien. „Da ist allerdings mehr als eine Formel auf dem Drive, das erschwert die Sache. Wir können nicht wissen, welche funktioniert, ehe wir nicht die Substanzen besorgt und jede einzelne ausprobiert haben.“
Dante harkte sich mit den Fingern durchs Haar und begann hin und her zu tigern. Er war begierig, mehr über die Formeln zu erfahren, die Ben Sullivan auf dem Flashdrive gespeichert hatte. Andererseits zog es ihn in sein Quartier zurück. Er konnte Tess’ Unruhe spüren, denn ihre Blutsverbindung schuf einen beständigen Kontakt zwischen ihnen. Es war wie ein unsichtbarer Draht, der ihn mit ihr verband, als wären sie eins.