Und die einzige Frau, die er je an seiner Seite wollte.
Aber jetzt offenbarte sich alles zu schnell. Ein Gewirr aus Halbwahrheiten und Geheimnissen umfing ihn wie eine Spirale aus Fallstricken, während sie ihn panisch anstarrte. In ihren Augen lag ein Flehen, er möge die unerträgliche Situation irgendwie wenden, sodass alles wieder Sinn ergab.
„Ja“, gab Dante zu, unfähig sie anzulügen. „Rio ist ein Vampir, Tess. Wie ich.“
33
Tess’ Herz begab sich auf eine wilde Tauchfahrt in ihren Magen. „W-was hast du gesagt?“
Dante sah sie an, die whiskygoldenen Augen viel zu ernst, seine Miene zu ruhig. „Ich bin ein Stammeskrieger. Ein Vampir.“
„Oh mein Gott“, stöhnte sie. Ihre Haut zog sich in erneuter Panik zusammen, und Abscheu schüttelte sie.
Sie wollte es nicht glauben – er sah nicht aus wie eine der Kreaturen, die sie angegriffen hatten, auch nicht wie der, der nun gekrümmt am Boden der Krankenstation lag wie eine gequälte Kugel. Aber Dantes Tonfall war ganz gelassen und so sachlich, dass sie wusste, er sagte ihr die Wahrheit. Vielleicht war es das erste Mal, seit sie ihn getroffen hatte, dass er ehrlich mit ihr war.
„Du hast mich belogen. Die ganze Zeit hast du mich angelogen.“
„Ich wollte es dir sagen, Tess. Ich habe versucht, die Worte zu finden, um dir alles zu erzählen …“
„Dass du so etwas wie eine kranke Bestie bist? Dass du mich benutzt hast – wofür eigentlich? War es nur, um an Ben ranzukommen, damit du und deine blutsaugenden Kumpane ihn umbringen können?“
„Wir haben den Menschen nicht umgebracht, das schwöre ich dir. Aber das heißt nicht, dass ich es nicht tun würde, wenn es nötig ist. Und – ja, ich musste herausfinden, ob du etwas mit seinem Crimson-Handel zu tun hast, und anfangs dachte ich auch, du wärst nützlich, um mehr über seine Aktivitäten zu erfahren. Ich hatte eine Aufgabe zu erfüllen, Tess. Aber ich brauchte dein Vertrauen auch, damit ich dich schützen konnte.“
„Ich brauche deinen Schutz nicht.“
„Doch, den brauchst du.“
„Nein“, sagte sie, halb betäubt vor Abscheu und Entsetzen. „Was ich brauche, ist, so weit wie möglich von dir wegzukommen.“
„Tess, der sicherste Ort für dich ist im Moment hier bei mir.“
Als er näher kam, die Hände ausgestreckt zu einer um Vertrauen bittenden Geste, schrak sie zurück. „Bleib weg von mir. Ich meine es ernst, Dante. Geh weg!“
„Ich tu dir nicht weh. Versprochen.“
Ein Bild huschte durch ihr Bewusstsein, als er die Worte aussprach. Im Geiste fand sie sich plötzlich in den Lagerraum ihrer Klinik versetzt. Sie beugte sich über einen schwer verwundeten Mann, der es irgendwie nach einem fürchterlichen Kampf dorthin geschafft hatte. Damals war er ein Fremder gewesen, jetzt aber nicht mehr.
Es war Dantes Gesicht, das sie sah, blutbespritzt und verdreckt, sein Haar triefend vor Nässe, die über seine Stirn lief. Seine Lippen bewegten sich und Sprachen die gleichen Worte, die sie eben von ihm gehört hatte: Ich tu dir nicht weh. Versprochen …
Und plötzlich kam ihr eine deutliche und sehr klare Erinnerung an starke Hände, die sie an den Armen griffen und festhielten. An Dantes Lippen, die seltsame Zähne entblößten – große, weiße Reißzähne, die sich ihrer Kehle näherten.
„Ich kannte dich nicht“, sagte Dante, als könne er ihren Gedanken im Geiste folgen. „Ich war sehr geschwächt und ernstlich verletzt. Ich wollte nur nehmen, was ich von dir brauchte, und dich dann in Ruhe lassen. Da wäre kein Schmerz für dich geblieben, kein Leid. Ich hatte keine Ahnung, was ich tat, bis ich dein Mal sah …“
„Du hast mich gebissen … du … oh Gott, du hast in dieser Nacht mein Blut getrunken? Wie … warum erinnere ich mich erst jetzt daran?“
Sein starrer Gesichtsausdruck wurde weicher, als hätte er Gewissensbisse. „Ich habe deine Erinnerung gelöscht. Ich habe versucht, dir einiges zu erklären, aber die Situation geriet außer Kontrolle. Wir hatten ein Handgemenge, und du hast mir ein Betäubungsmittel gespritzt. Als ich zu mir kam, war es schon kurz vor Sonnenaufgang, und ich hatte keine Zeit mehr, Reden zu halten. Ich dachte dann, es wäre das Beste für dich, wenn du dich nicht erinnern könntest. Dann sah ich das Mal auf deiner Hand und wusste, dass nichts und niemand ungeschehen machen konnte, was ich dir angetan hatte.“
Tess brauchte nicht auf ihre rechte Hand zu sehen, um zu wissen, von welchem Mal er sprach. Das kleine Geburtsmal war ihr immer ein Rätsel gewesen. Eine Träne, die über der Sichel eines Halbmonds schwebte. Aber es ergab für sie jetzt auch nicht mehr Sinn als zuvor.
„Nicht viele Frauen haben das Mal, Tess. Nur ein paar wenige. Du bist eine Stammesgefährtin. Wenn einer meiner Art dein Blut trinkt oder du seins, dann ist ein Band geschmiedet. Es ist unzerstörbar.“
„Und du hast … mir das angetan?“
Eine neue Erinnerung überflutete sie jetzt, ein weiteres Erlebnis voller Blut und Dunkelheit. Tess erinnerte sich, wie sie aus einem düsteren Traum erwacht war, als ihr Mund sich mit brausender Energie füllte, mit schierer Lebenskraft. Sie war verhungert gewesen, und Dante hatte sie genährt. Erst aus seinem Handgelenk, später aus einer Vene, die er für sie an seinem Hals geöffnet hatte.
„O mein Gott“, flüsterte sie. „Was hast du mit mir gemacht?“
„Ich habe dein Leben gerettet, indem ich dir mein Blut gab. So wie du meins mit deinem gerettet hast.“
„Du hast mir beide Male keine Wahl gelassen“, keuchte sie. „Was bin ich jetzt? Hast du mich in dieselbe Art Bestie verwandelt, die du bist?“
„Nein. So funktioniert das nicht. Du wirst nie ein Vampir werden. Aber wenn du dich weiter als meine Gefährtin von meinem Blut ernährst, kannst du sehr lange Zeit leben. So lange wie ich. Vielleicht länger.“
„Ich kann das nicht glauben. Ich weigere mich, das zu glauben!“
Tess wandte sich ab und drückte gegen die Schwingtüren. Nichts rührte sich. Sie drückte erneut, mit all ihrer Kraft. Nichts. Es war, als wären die Scharniere festgeschweißt worden. Total unbeweglich.
„Lass mich hier raus“, fuhr sie Dante an. Sie hatte den starken Verdacht, dass einzig sein Wille dafür verantwortlich war, dass sich die Türen für sie nicht öffneten. „Verdammt, Dante! Lass mich gehen!“
Sobald die Tür ein wenig nachgab, stieß Tess sie auf, brach hindurch und rannte wie um ihr Leben. Sie hatte keine Ahnung, wo sie hinlief, und es war ihr auch egal, solange sich nur die Entfernung zwischen ihr und Dante vergrößerte. Der Mann, den sie nur geglaubt hatte zu kennen. Den Mann, den sie geglaubt hatte zu lieben. Das Monster, das sie belogen hatte, schlimmer als irgendjemand in ihrer gepeinigten Vergangenheit.
Elend vor Angst und wütend über ihre eigene Dummheit, hielt sie mühsam die Tränen zurück, die ihr in die Augen stiegen. Sie rannte schneller, in dem Bewusstsein, dass Dante sie mit Sicherheit einholen konnte. Sie musste nur einen Weg aus diesem Gebäude finden. Sie erreichte eine Reihe von Fahrstühlen, drückte die Rufknöpfe und betete, dass die Türen sich öffnen würden. Sekunden rasten vorbei … zu viele, um das Warten noch länger zu riskieren.
„Tess.“ Dantes tiefe Stimme erschreckte sie durch ihre Nähe. Er war direkt hinter ihr, nahe genug, um sie zu berühren, obwohl sie ihn nicht hatte kommen hören.
Mit einem Schrei duckte sie sich aus seiner Reichweite und unternahm einen neuen irrsinnigen Sprint in einen der lang gestreckten Flure. Dann lag ein offener Türbogen vor ihr. Möglicherweise konnte sie sich dort verstecken, dachte sie. Die Verzweiflung ließ sie nach jeder Möglichkeit greifen – vielleicht half ihr das, dem Albtraum zu entkommen, der sie jagte. Sie schlüpfte in einen düsteren Raum – eine Art Kapelle mit gravierten Steinwänden, nur von einer roten Säulenkerze beleuchtet, die bei einem schmucklosen Altar brannte.
Es gab keinen Platz, sich in dem kleinen Heiligtum zu verstecken. Nur zwei Reihen Bänke und das steinerne Podest vorne im Raum. Auf der anderen Seite lag noch ein Türbogen, dahinter tiefste Dunkelheit. Es war ihr unmöglich, zu erkennen, wohin er führen mochte. Doch das war jetzt sowieso bedeutungslos. Dante stand in dem offenen Eingang des Korridors. Sein muskulöser Körper hatte noch nie so machtvoll gewirkt wie jetzt, als er in die kleine Kapelle trat und sich langsam auf sie zu pirschte.