„Tess, wir müssen das nicht tun. Bitte lass uns reden.“ Seine kraftvollen Bewegungen stockten für eine Sekunde, und er blickte finster. Dann hob er die Hand an die Schläfe, als ob er Schmerzen hätte. Als er wieder sprach, war seine Stimme um eine volle Oktave tiefer und grollte wie ein tiefes Knurren. „Herrje, könnten wir einfach mal … Lass uns doch versuchen, das vernünftig zu klären.“
Tess wich zurück, schob sich zentimeterweise auf die Wand gegenüber zu, wo der andere in den Stein gehauene Türbogen lag.
„Verdammt, Tess. Hör mich an. Ich liebe dich.“
„Sag das nicht. Hast du mir nicht schon genug Lügen erzählt?“
„Das ist keine Lüge. Ich wünschte, es wäre eine, aber …“
Dante machte noch einen Schritt, und plötzlich gaben seine Knie unter ihm nach. Er fauchte, als er sich an einer der niedrigen Bänke fing, und krallte die Finger so hart in das Holz, dass es Tess wie ein Wunder erschien, dass es nicht zerbarst.
Etwas Seltsames passierte mit seinen Gesichtszügen. Trotz seines gesenkten Kopfes konnte sie erkennen, dass seine Konturen schärfer wurden, seine Wangen schienen schmaler, eckiger, seine goldene Haut spannte sich straffer über den Knochen. Er zischte einen Fluch, etwas, das sie genauso wenig erkannte wie die grabestiefe Rauheit seiner Stimme.
„Tess … du musst mir vertrauen.“
Sie rückte näher an den Türbogen heran, tastete sich mit der Hand vor, während sie die Wand entlangschlich. Dann stand sie vor der Öffnung, hinter sich nichts als gähnende Finsternis und eine leichte, kühle Brise an ihrem Rücken. Sie wandte den Kopf, um in die Dunkelheit zu blicken …
„Tess.“
Dante musste ihre Bewegung gespürt haben. Als sie ihn jetzt ansah, hob er den Kopf und begegnete ihrem Blick.
Die warme Farbe seiner Augen hatte sich in ein feuriges Glühen verwandelt, die Pupillen zu vertikalen Schlitzen verengt. Mit staunendem Entsetzen beobachtete sie seine Verwandlung.
„Geh nicht“, stieß er hervor, und seine Worte verhedderten sich in einem spektakulären Paar von Reißzähnen, die immer länger wurden. „Ich werde dich nicht verletzen.“
„Es ist zu spät, Dante, das hast du schon“, flüsterte sie. Dann trat sie in den Türbogen. In der Dunkelheit ahnte sie eine Flucht von Steinstufen, die steil nach oben führten – vermutlich zu der Quelle des kühlen Luftzugs, der sie umgab. Wo immer sie auch hinführten, sie musste es versuchen. Sie setzte ihren Fuß auf die erste Stufe …
„Tess!“
Sie sah nicht zurück. Sie wusste, sie durfte es nicht, sonst würde sie vielleicht nicht mehr den Mut haben, ihn zu verlassen. Sie nahm die ersten Stufen vorsichtig tastend, dann wurde sie schneller und sprang eilends weiter die Treppe hinauf.
Von unten hallte Dantes wütendes Aufbrüllen durch die Kapelle, wehte die Steinwände hoch und direkt in ihre Knochen. Tess hielt nicht an. Sie hetzte noch schneller treppaufwärts, rannte und rannte. Es schienen Hunderte von Stufen zu sein. Keuchend ließ sie nicht locker, bis sie am Ende eine solide Stahltür erreichte. Sie schlug mit beiden Fäusten dagegen und stieß sie auf.
Blendendes Tageslicht ergoss sich über sie. Ein kühler Novemberwind wehte über die Wiese um sie herum. Tess ließ die Tür mit einem dröhnenden Knall hinter sich zufallen. Sie schlang sich die Arme um die Brust und rannte weiter in einen kalten, hellen Morgen.
Dante stürzte zu Boden, gepackt im eisernen Griff seines hartnäckigen, kräftezehrenden Albtraums. Die Todesvision war ganz plötzlich gekommen und hatte sich verstärkt, während er und Tess stritten.
Sie verschlimmerte sich noch, nun, wo sie gegangen war. Dante hörte die Tür oben zuschlagen. Das kurze Aufblitzen von Tageslicht, das die lange Treppe hinuntergeschossen kam, ließ ihn wissen, dass er ihr nicht folgen konnte: Selbst wenn er die unsichtbaren Ketten brechen könnte, die ihn festhielten, würden die erbarmungslosen Strahlen des Sonnenlichtes ihn davon abhalten, ihr nachzusetzen.
Er sank tiefer in den Abgrund seiner Vorahnung, wo Wölkchen dicken schwarzen Rauchs ihm um Glieder und Kehle wehten und die kostbare Luft verrußten. Die zerschmetterten Überbleibsel eines Rauchmelders hingen an ihren verknoteten Drahteingeweiden von der Decke. Sie blieben stumm, während sich der Rauch darum versammelte.
Von irgendwo kam das wütende Poltern fallender Gegenstände, als ob Einbauten und Möbel von einer marodierenden Armee durcheinandergeworfen würden. Um sich herum in der kleinen weißen Zelle, die ihn beherbergte, sah Dante endlos Schubladen und Kästen durcheinanderfliegen, ihr Inhalt überall verstreut, in Eile durchwühlt.
In der Vision bewegte er sich jetzt. Er stapfte durch das ganze Zeug und bahnte sich einen Weg zu der geschlossenen Tür auf der anderen Seite des Raumes. Oh Gott, er kannte diesen Platz, das begriff er jetzt.
Er war in Tess’ Klinik.
Aber wo war sie?
Dante merkte, dass ihm alles wehtat, sein Körper fühlte sich zerschlagen an und müde, jeder Schritt war mühselig. Ehe er die Tür erreichen konnte, um nach draußen zu kommen, öffnete sie sich von der anderen Seite. Ein bekanntes Gesicht grinste ihn genüsslich durch den Rauch an.
„Ach, sieh mal an, wer da ist“, sagte Ben Sullivan, kam herein und hielt ein Stück Telefonkabel in den Händen. „Tod durch Feuer ist so eine schmutzige Art des Abgangs. Wenn du allerdings genug Rauch einatmest, sind die Flammen nur ein Nachspiel.“
Dante wusste, dass er keine Angst haben sollte, aber das Entsetzen schlug seine Krallen in ihn, als sein mutmaßlicher Henker den Raum betrat und ihn mit erstaunlich kraftvollem Griff packte. Dante versuchte zu kämpfen, aber seine Glieder schienen nicht wie gewohnt unter seinem Kommando zu stehen. Dann spannte der Mensch seinen Arm und streckte ihn mit einem Schlag aufs Kinn nieder.
Seine Vision verschwamm auf verrückte Weise. Als er das nächste Mal die Augen öffnete, lag er bäuchlings auf einem hochgestellten Operationstisch aus kaltem, polierten Stahl, während Ben Sullivan ihm die Hände auf den Rücken zog und ihn mit dem Telefonkabel an den Handgelenken fesselte. Dante hätte fähig sein sollen, die Fesseln zu sprengen, doch sie hielten. Der Mensch ging zu seinen Füßen und fesselte sie an die Handgelenke.
„Weißt du, ich hatte angenommen, dich zu töten würde schwierig sein“, flüsterte ihm der Crimson-Dealer ins Ohr. Dieselben Worte, die Dante gehört hatte, als er das letzte Mal mit diesem kurzen Eindruck seines Todes konfrontiert wurde. „Du hast es mir sehr leicht gemacht.“
Wie schon das letzte Mal wanderte Ben Sullivan zur Vorderseite der Platte und beugte leicht die Knie. Er griff Dante in die Haare und zog sein Gesicht nach oben. Hinter Sullivans Kopf sah Dante an der Wand über der Tür eine Uhr. Sie zeigte elf Uhr neununddreißig. Er kämpfte darum, mehr Einzelheiten wahrzunehmen. Er wusste, dass er alles brauchte, was er zusammentragen konnte. Vielleicht ließ sich das Wissen um bestimmte Details noch in einen Vorteil verwandeln. Er wusste nicht, ob es möglich war, das Schicksal auszutricksen, aber er war wild entschlossen, alles zu versuchen.
„So hätte es nicht kommen müssen“, sagte Sullivan jetzt. Der Mensch beugte sich näher heran – so nah, dass Dante den typischen leeren Blick des Lakaien erkannte. „Du sollst wissen, dass du dir das selbst eingebrockt hast. Sei dankbar, dass ich dich nicht meinem Meister überlasse.“
Damit ließ Ben Sullivan ihn los, und Dantes Kopf fiel zurück. Als der Lakai aus dem Raum schritt und die Tür verschloss, öffnete Dante die Augen und sah in der polierten Stahlfläche, auf der er lag, sein Spiegelbild.