„Was? Wie meinst du das?“
„Du wirst uns jetzt helfen, das Flashdrive zu finden, oder du wirst zusehen, wie ich der kleinen Schlampe die Kehle aufschlitze.“
Hinter dem Knebel in ihrem Mund schrie Nora auf. Sie begann wild an ihren Fesseln zu zerren, alles umsonst. Einer von Bens breiten Kumpanen kam herüber und zerrte sie auf die Füße. Er hielt Nora in einem schmerzhaften Griff und zog sie näher heran, bis nur noch ein paar Handbreit die beiden Frauen trennten. Nora bettelte mit den Augen, nackte Panik ließ sie im harten Griff ihres Fängers zittern wie Espenlaub.
„Lass sie gehen, Ben. Bitte.“
„Reich mir das Flashdrive rüber, und ich werde sie gehen lassen, Tess.“
Nora stöhnte, es klang flehentlich, verzweifelt. Tess wusste jetzt, was echte Verzweiflung war, eine knochentiefe Qual, die sich nur noch tiefer in sie bohrte, als sie ihrer Freundin in die Augen sah und begriff, dass Ben und diese anderen Männer es todernst meinten. Sie würden Nora töten – voraussichtlich auch Tess –, wenn sie ihnen nicht gab, was sie haben wollten. Und sie konnte es ihnen nicht geben, weil sie es nicht hatte.
„Ben, bitte. Lass Nora gehen und nimm stattdessen mich. Ich bin es, die das Flashdrive genommen hat, nicht sie. Sie ist überhaupt nicht verwickelt in …“
„Sag mir, wo du das Flashdrive gelassen hast, und ich lasse sie vielleicht gehen. Wie ist das, Doc? Fair genug für dich?“
„Ich habe es nicht“, murmelte sie. „Ich habe es unterm Untersuchungstisch gefunden, wo du es versteckt hattest, aber ich habe es nicht mehr.“
Er fixierte sie mit diesem gefühllosen Starren, ein Muskel zuckte an seinem Kinn. „Was hast du damit gemacht?“
„Lass sie gehen“, wand sich Tess. „Lass sie gehen, und ich erzähle dir alles, was du wissen willst.“
Ben hob einen Mundwinkel. Er begutachtete das Messer, das er hielt und mit dessen rasiermesserscharfen Klinge er herumspielte. Dann, in einer blitzartigen Bewegung, fuhr er herum und stach Nora damit in den Bauch.
„Nein!“, schrie Tess. „Oh Gott – nein!“
Ben schwang zurück zu ihr, so ruhig, wie man nur sein konnte. „Das ist nur eine Wunde in den Eingeweiden, Doc. Sie kann das überleben, wenn sie schnell genug Hilfe bekommt, also fang lieber an zu reden.“
Tess’ Knie gaben nach. Nora blutete heftig, die Augen verdreht vom Schock.
„Gott verdamme dich, Ben. Ich hasse dich.“
„Und ich kümmere mich nicht länger darum, was du von mir denkst, Tess. Alles, worum ich mich kümmere, ist das Flashdrive zurückzubekommen. So. Wo zum Teufel ist es?“
„Ich habe es jemandem gegeben.“
„Wem?“
„Dante.“
Das verursachte das Aufflackern eines kleinen Fünkchens von Feindseligkeit in Bens teilnahmslosem Blick. „Du meinst diesen Kerl – den du bumst? Hast du auch nur die leiseste Ahnung, was du da angerichtet hast? Weißt du, was er ist?“
Als sie nicht antwortete, schüttelte Ben den Kopf und kicherte plötzlich. „Tja, du hast wirklich Mist gebaut, Tess. Es liegt nun nicht mehr in meinen Händen.“
Damit riss er seinen Arm hoch, und die Klinge beschrieb denselben Bogen zu Nora, wo sie seine Drohung von eben wahr machte. Tess wimmerte auf, als ihre Freundin leblos zu Boden fiel. Ben und einer seiner Komplizen packten Tess, ehe sie Nora erreichen konnte – und zerstörten den kleinen Funken Hoffnung, sie könnte durch ihre Berührung Noras Leben retten. Sie schleppten sie von der Leiche weg und hielten ihre Arme und Beine fest, als sie sich in einem Ausbruch tierischer Verzweiflung zu wehren versuchte.
Kämpfen war aussichtslos. Nach wenigen Sekunden lag Tess auf dem Boden eines der Untersuchungsräume und hörte das metallische Klicken des Schlosses, als Ben sie einsperrte. Sie konnte nichts mehr tun, um ihr Schicksal abzuwenden.
Nikolai fuhr wie eine gesengte Sau. Er trieb den schwarzen Geländewagen in halsbrecherischem Tempo durch die Stadt. Die Versuchung, zuzusehen, wie die sonnenbeschienenen Straßen und Gebäude an den dunklen, UV-Strahlen absorbierenden Fenstern vorbeiflogen, war groß. Es war eine Aussicht, die Dante nie genossen hatte, auf die er aber auch in Zukunft gern verzichten wollte. Er hielt seinen Kopf gesenkt und konzentrierte seine Gedanken auf Tess.
Er und die anderen waren von Kopf bis Fuß in schwarze Schutzkleidung aus Nylon gehüllt: Arbeitsanzüge, Handschuhe, Skihauben mit Gesichtsmaske und eng anliegende Skisonnenbrillen, um die Augen zu schützen. Trotzdem war der kurze Sprint vom Fahrzeug zur Hintertür der Klinik ein harter Gang.
Dante führte die Aktion an und verschwendete keine Zeit. Die Waffe im Anschlag, platzierte er seinen bestiefelten Fuß in der Mitte der Lagerraumtür und trat die Stahlfüllung aus den Angeln. Rauch von den Feuern, die Sullivan überall zu legen begonnen hatte, wirbelte ihnen entgegen. Die schwelenden Brände loderten durch den frischen Sauerstoff, der jetzt von draußen kam, sofort auf. Sie würden nicht viel Zeit haben, das hier zu Ende zu bringen.
„Was zum Teufel ist hier los?“
Auf das Getöse brechenden Metalls und fliegender Trümmer von der Tür kam ein Lakai herbeigerannt, um zu sehen, was vor sich ging. Niko ließ es ihn ohne Verzögerung wissen, indem er ihm eine Runde Stahlmantelgeschosse in den Schädel pumpte.
Jetzt, wo sie drin waren, roch Dante durch den Rauch hindurch Blut und Tod – nicht den frischen Toten zu ihren Füßen und glücklicherweise auch nicht Tess. Sie war noch am Leben. Er fühlte ihre Angst wie seine eigene. Ihr augenblicklicher Zustand voller Sorge und Schmerz versengte ihn wie glühendes Eisen.
„Leert das Gebäude und löscht die Feuer!“, befahl er Niko und Chase. „Tötet jeden, der euch in die Quere kommt.“
Tess zerrte auf dem Untersuchungstisch an den stramm gebundenen Kabeln, die ihre Hände und Füße hinter ihrem Rücken fesselten. Sie rührten sich nicht. Aber sie musste es weiter versuchen, selbst wenn all ihr Kämpfen nur dazu diente, ihren Wächter zu belustigen.
„Ben, warum tust du das? Um Gottes willen, warum musstest du Nora töten?“
Ben schnalzte mit der Zunge. „Du hast sie getötet, Tess, nicht ich. Du hast meine Hand gezwungen.“
Panik würgte sie, als Ben an sie herantrat.
„Weißt du, ich hatte angenommen, dich zu töten würde schwierig sein“, flüsterte er neben ihrem Ohr, und sein heißer, saurer Atem attackierte ihre Nase. „Du hast es mir sehr leicht gemacht.“
Sie beobachtete mit flatternden Nerven, wie er um die Tischplatte kam und sich auf Augenhöhe zu ihr herunterbeugte. Seine Finger griffen hart in ihre Haare, als er ihr Gesicht von der kalten Metallplatte hob. Seine Augen waren die eines toten Mannes, der leeren Hülle eines menschlichen Wesens, nicht mehr der Ben Sullivan, den sie einmal gekannt hatte.
„So hätte es nicht kommen müssen“, sagte er in trügerisch höflichem Ton zu ihr. „Du sollst wissen, dass du dir das selbst eingebrockt hast. Sei dankbar, dass ich dich nicht meinem Meister überlasse.“
Er streichelte ihre Wange, seine Berührung war widerwärtig. Als sie zurückzuckte, griff er fester in ihr Haar und zwang sie, ihn anzusehen. Er lehnte sich vor, als ob er sie küssen wollte. Sie spuckte ihm ins Gesicht, wehrte sich mit den Mitteln, die er ihr gelassen hatte.
Tess spannte sich in Erwartung der Vergeltung, als er seine freie Hand hob, um sie zu schlagen. „Du verfluchte Hu…“
Er bekam nicht die Chance, seinen Satz zu beenden oder gar sie zu schlagen. Ein Schwall eiskalter Luft zog durch die plötzlich klaffende Türöffnung herein, einen Moment bevor die massive Gestalt eines Mannes in schwarzer Kleidung mit undurchsichtiger Skibrille den Raum ausfüllte. Schusswaffen und Klingen hingen an seinen Hüften und in den dicken Lederholstern, die sich über seiner muskulösen Brust kreuzten.
Dante.
Tess hätte ihn überall erkannt, auch unter dem Schutz von all dem Schwarz. Hoffnung flammte in ihr auf, zusammen mit Erstaunen. Sie konnte fühlen, wie er sie mit seinem Geist berührte, ihr versicherte, dass er sie heil hier rausbringen würde. Dass sie jetzt nichts mehr zu fürchten hatte.