Tess sah hinab und bemerkte ein Aufschimmern von Metall unter seiner durchweichten Jacke. Sie zog das Leder zur Seite und holte scharf Luft – unter seinem Arm steckte in einer Scheide eine geschwungene Messerklinge. Auf der anderen Seite trug er ein Halfter, vermutlich für eine Pistole, aber es war leer. Und der breite, schwarze Gürtel, den er um seine schlanken Hüften trug, war gespickt mit Handwaffen.
Dieser Mann war ein wandelndes Sicherheitsrisiko, so viel war sicher. Ein Gangster, gegen den die abgebrühten Kerle hier am Flussufer die reinsten Waisenknaben waren. Dieser Mann wirkte knallhart und tödlich, alles an ihm roch nach Gewalt.
Das einzig Weiche an ihm war sein Mund. Weit und sinnlich, die Lippen in seiner Betäubung leicht geöffnet, war sein Mund auf profane Weise schön. Es war die Art von Mund, die eine Frau zum Schmelzen bringen konnte.
Nicht, dass Tess für den Typ etwas übrighatte.
Und sie hatte auch die Fangzähne nicht vergessen.
Trotz der schweren Dosis Betäubungsmittel in seinem Blutkreislauf bewegte sich Tess mit extremer Vorsicht. Sie hob seine Oberlippe an, um sich das näher anzusehen.
Keine Reißzähne.
Nur eine Reihe perfekter, perlweißer Zähne. Wenn er bei seinem Angriff ein Plastikgebiss getragen hatte, dann hatte das aber verdammt echt ausgesehen. Nun schien es, als hätten sich diese riesigen Reißzähne einfach in Luft aufgelöst.
Was überhaupt keinen Sinn ergab.
Schnell untersuchte sie den Boden, doch da war nichts. Kein ausgespucktes Vampirgebiss lag herum. Und sie hatte sich das weiß Gott nicht eingebildet.
Wie sonst hatte er ihren Hals öffnen können, als wäre er eine Limodose? Tess tastete nach ihrer Bisswunde. Die Haut unter ihren Fingerspitzen fühlte sich glatt an. Kein Blut, nichts Klebriges, keine Spur von den Löchern, die er ihr in die Halsschlagader gebohrt hatte. Sie tastete die ganze Seite ab. Die Haut war nicht einmal empfindlich.
„Das ist doch unmöglich. Das gibt’s doch nicht.“
Tess stand auf, eilte in den nächstgelegenen Untersuchungsraum und knipste alle Lichter an. Sie strich ihr Haar vom Hals zurück und betrachtete ihr Spiegelbild im matten, rostfreien Stahl des Papiertuchspenders, der an der Wand hing. Die Haut an ihrem Hals war völlig unversehrt.
Als hätte dieser schreckliche Angriff nie stattgefunden.
„Das gibt’s doch nicht“, wiederholte sie zu ihrem verdatterten Spiegelbild. „Wie kann das sein?“
Fassungslos trat sie von ihrem Behelfsspiegel zurück.
Sie war vollkommen durcheinander.
Vor weniger als einer halben Stunde hatte sie noch um ihr Leben gebangt, hatte gespürt, wie der schwer bewaffnete, schwarz gewandete Fremde, den sie fast bewusstlos an der Hintertür ihrer Klinik gefunden hatte, ihr das Blut aus dem Hals saugte.
Es war passiert.
Also wie um alles in der Welt konnte es dann sein, dass ihrer Haut nichts anzusehen war, nicht die winzigste Spur eines Angriffs?
Tess’ Füße fühlten sich wie Fremdkörper an, als sie aus dem Untersuchungsraum zurück zum Lagerraum ging. Was immer der Typ mit ihr gemacht hatte, wie auch immer er es geschafft hatte, die Wunden zu beseitigen – Tess wollte, dass er verhaftet wurde und vor Gericht kam.
Sie kam an der offenen Tür zum Lagerraum vorbei und blieb abrupt stehen.
Die Pfütze aus Flusswasser und Blut, die der Angreifer hereingebracht hatte, bedeckte einen großen Teil des Linoleumfußbodens. Bei dem Anblick wurde Tess ein wenig schwach im Magen, aber da war noch etwas anderes, das ihr Innerstes in eisigem Schrecken zusammenfahren ließ.
Der Lagerraum war leer.
Der Mann war fort.
Eine Betäubungsmitteldosis, die einen Gorilla in Schlaf versetzt hätte, und trotzdem war er irgendwie aufgestanden und verschwunden.
„Suchst du mich, Engelchen?“
Tess fuhr herum und schrie.
5
Adrenalin rauschte in ihren Adern, peitschte ihren Fluchtinstinkt auf. Tess schoss an ihm vorbei und rannte den Gang hinauf, ihre Gedanken rasten mit Lichtgeschwindigkeit.
Sie musste hier raus.
Sie musste ihre Handtasche, ihre Geldbörse und ihr Handy holen, und dann, verdammt noch mal, nichts wie raus hier.
„Wir müssen reden.“
Da war er wieder – er stand direkt vor ihr und verstellte ihr den Weg in ihr Büro.
Als wäre er einfach von dort verschwunden, wo er eben noch gestanden hatte, um sich dann hier im Türrahmen, durch den sie jetzt gehen musste, zu materialisieren.
Mit einem panischen Wimmern wagte Tess einen schnellen Sprung und warf sich in Richtung Empfangsbereich. Sie griff nach dem Telefon und drückte eine Kurzwahltaste.
„Das ist nicht real. Das ist einfach nicht real“, flüsterte sie atemlos, wiederholte das Mantra, als könnte es alles ungeschehen machen, wenn sie nur fest genug daran glaubte.
Am anderen Ende klingelte es.
Mach schon, los, geh ran.
„Auflegen, Frau.“
Tess wirbelte herum, zitternd vor Angst. Der Angreifer bewegte sich langsam, mit der geschmeidigen Grazie eines Raubtieres. Er kam näher. Zeigte ihr in einem rauen Lächeln die Zähne.
„Bitte. Leg auf. Jetzt.“
Tess schüttelte den Kopf. „Zur Hölle mit dir!“
Als hätte er plötzlich seinen eigenen Willen, flog ihr der Hörer aus der Hand. Als er klappernd neben ihr auf dem Schreibtisch niederfiel, hörte Tess Bens Stimme. „Tess? Hallo … bist du das, Schätzchen? Süße, es ist drei Uhr morgens. Was machst du denn immer noch in der Kli…“
Hinter ihr ein lautes Krachen. Es klang, als hätten unsichtbare Hände das Telefonkabel aus der Wandbuchse gerissen. In der Stille, die nun folgte, ballte sich in ihrem Magen die Angst zu einem harten Knoten zusammen.
„Wir haben da ein ernstes Problem. Tess.“
O Gott.
Der war jetzt stinksauer, und er wusste ihren Namen.
Im Hinterkopf registrierte Tess, dass der Mann nicht nur bei Bewusstsein war, an sich schon ein Ding der Unmöglichkeit, sondern sich außerdem auf geradezu wundersame Weise von seinen Verletzungen erholt hatte. Unter dem Dreck und der verschmierten Asche, die seine Haut bedeckten, waren die schrecklichen Kratzer und Schnitte verheilt. Seine schwarze Drillichhose war an der Wunde am Bein zerrissen und blutgetränkt, aber er blutete nicht mehr. Genauso verhielt es sich mit der Schusswunde in seinem Unterbauch. Durch den zerfetzten Stoff seines schwarzen T-Shirts hindurch sah Tess nur die glatten Wölbungen seiner Muskeln und makellose, hellbraune Haut.
War das Ganze etwa irgend so ein kranker Halloweenstreich?
Das glaubte sie nicht, und sie wusste, sie tat gut daran, sich diesem Typen gegenüber nach wie vor in Acht zu nehmen.
„Mein Freund weiß, dass ich hier bin. Er ist wahrscheinlich schon unterwegs hierher. Wahrscheinlich hat er sogar schon die Polizei angerufen …“
„Du trägst da ein Mal an der Hand.“
„Wwas?“
Seine Stimme klang anklagend, und jetzt zeigte er auf sie, auf ihre rechte Hand, die zitternd auf ihrem Hals lag.
„Du bist eine Stammesgefährtin. Von heute Nacht an gehörst du mir.“
Seine Mundwinkel kräuselten sich beim Sprechen, als seien seine Worte ganz und gar nicht nach seinem Geschmack. Tess gefielen sie auch nicht unbedingt. Sie zog sich einige Schritte zurück und spürte, wie ihr das Blut aus den Wangen wich. Er ließ sie keine Sekunde aus den Augen.
„Hören Sie, ich weiß nicht, was hier los ist. Ich weiß nicht, was heute Nacht mit Ihnen passiert ist oder wie Sie in meine Klinik gekommen sind. Ich weiß nicht, wie es sein kann, dass Sie jetzt so vor mir stehen können, nachdem ich Ihnen genug Betäubungsmittel verpasst habe, um zehn Männer …“
„Ich bin kein Mensch, Tess. Ich bin … etwas anderes.“
Darüber hätte sie verächtlich gelacht, wenn er nicht so todernst geklungen hätte. So tödlich ruhig.
Er war verrückt.
Klar. Natürlich war er das.