«So ist das glaub’ ich besser. Es gibt zuviel Hintergrundrauschen, wenn einer von uns zu weit weg von dem Mikro steht. Ein altes Ding, wie’s scheint. Oh, und vielleicht halte ich es mal. Sie sehen etwas unglücklich damit aus. «Sie nahm das Mikrofon und rief durch den Raum:»Okay, Joe, schalt ein.«
Joe schaltete ein.
Katya zuckte entsetzlich von Kopf bis Fuß, flog mit durchgebogenem Rücken nach hinten und stürzte zu Boden.
Die leise miteinander plaudernden Leute drehten sich um, schnappten nach Luft und schrien auf, ihre Gesichter vor Schreck verzerrt.
«Ausschalten!«rief ich scharf.»Schalten Sie alles aus. Sofort!«
Roderick machte zwei Schritte und beugte sich mit ausgestreckten Händen über Katya, um ihr zu helfen, doch ich zog ihn zurück.
«Joe soll erst das verdammte Mikrofon abschalten, sonst kriegen Sie den Schlag auch mit.«
Der fragliche Joe kam mit bleichem Gesicht herübergelaufen.
«Ist gemacht«, sagte er.»Es ist jetzt abgeschaltet.«
Ich dachte, sie alle, jeder von ihnen, wüßte, was zu tun war, und würde es tun. Aber sie standen und knieten einfach rings herum und sahen mich an, als hätte ich Bescheid zu wissen und zu handeln, als hätte ich der findige Kopf aus all den Filmen zu sein, der immer, aber auch immer die Führung übernahm.
O Gott, dachte ich. Sieh dir die bloß an. Und es war keine Zeit zu verlieren. Keine Sekunde. Sie atmete nicht mehr.
Ich kniete mich neben sie und nahm ihr die Brille ab. Riß den Kragen ihres Hemdes auf. Bog ihr den Kopf zurück. Drückte meinen Mund auf ihren und blies ihr meinen Atem in die Lunge.
«Ruft einen Arzt«, sagte Roderick.»Und einen Rettungswagen. O verdammt… Beeilt euch. Schnell!«
Ich atmete in sie hinein. Nicht zu fest. Mit normaler Atemstärke. Aber immer und immer wieder, so daß ihre Brust sich hob und senkte.
Ein starker elektrischer Schlag bringt das Herz zum Stillstand.
Ich versuchte, einen Puls an ihrem Hals zu ertasten, fand aber keinen. Roderick verstand, was ich wollte, und ergriff ihr Handgelenk, aber auch da tat sich nichts. Sein Gesicht sah gequält aus. Katya war offenbar viel mehr für ihn als nur eine Kollegin.
Zwei Minuten zogen sich wie zweitausend Jahre. Roderick legte ein Ohr an Katyas linke Brust. Ich beatmete sie weiter, obwohl ich mit jeder Sekunde mehr das Gefühl bekam, daß es keinen Zweck hatte, daß sie tot war. Ihre Haut hatte die Farbe des Todes und war sehr kalt.
Er hörte den ersten Klopfer, bevor ich ihn spürte. Ich sah es an seinem Gesicht. Dann kamen zwei einzelne Stöße in dem Blutgefäß an ihrem Hals, auf das ich die Finger hielt, danach ein paar ungleichmäßige, stockende kleine Schläge und unglaublicherweise dann schließlich langsam, rhythmisch und zusehends stärker das lebensspendende Ba-bum, ba-bum, ba-bum eines Herzens, das seine Funktion wieder ausübte.
Rodericks Lippen wurden schmal und verzogen sich, als er den Kopf hob, und die Sehnen an seinem Hals traten hervor, so angestrengt war er bemüht, nicht zu weinen. Aber die Tränen der Erleichterung liefen ihm dennoch über die Wangen, und er versuchte sie mit den Fingern wegzuwischen.
Ich tat, als sähe ich es nicht, falls es ihm darum ging. Aber ich wußte — der Himmel möge mir verzeihen —, daß ich eines Tages dieses Gesicht, diese Reaktion in einen Film einbringen würde. Was immer man lernte, was immer man sah und wie privat es auch sein mochte, als Schauspieler verwertete man es irgendwann.
Sie atmete krampfhaft aus eigener Kraft ein, während ich gerade durch die Nase Atem holte. Es war ein seltsames Gefühl, als sauge sie die Luft aus mir heraus.
Ich löste meinen Mund von ihrem und hörte auf, ihre Kiefer mit den Händen offenzuhalten. Sie atmete weiter, ein bißchen schwach erst, aber dann ganz gleichmäßig, in flachen, den Körper durchbebenden, hörbaren Zügen.
«Sie muß wärmer liegen«, sagte ich zu Roderick.»Sie braucht Decken.«
Er sah mich benommen an.»Ja, Decken.«
«Ich hol’ welche«, sagte jemand, und die atemlose Stille, die den Raum erfüllt hatte, schlug um in plötzliche Geschäftigkeit. Aus lähmendem Entsetzen wurde banger Schrecken, daraus nachlassender Schrecken, und darauf trank man erst mal wieder einen Schluck Whisky.
Ich sah Clifford Wenkins auf Katyas immer noch bewußtlose Gestalt herunterschauen. Sein Gesicht war grau und sah aus wie zerlaufender Kitt; der Schweiß hatte keine Zeit zum Trocknen gehabt. Ausnahmsweise aber hatte es ihm einmal die Sprache verschlagen.
Auch Conrad schien das» lieber Junge «vorübergehend vergangen zu sein. Dabei merkte ich genau, daß die Aus-druckslosigkeit seines Gesichts nicht vom Schrecken herrührte. Er war bei der Arbeit, wie ich vorhin — er betrachtete einen Elektrounfall im Hinblick auf Kamerawinkel, Licht und Schatten, Farbeffekte. An welchem Punkt, fragte ich mich, wurde die Ausbeutung des Leidens anderer eigentlich zur Sünde?
Jemand kam mit ein paar Decken wieder, und mit zitternden Händen wickelte Roderick Katya darin ein und schob ihr ein Kissen unter den Kopf.
Ich sagte zu ihm:»Erwarten Sie nicht zuviel, wenn Sie aufwacht. Sie ist wahrscheinlich verwirrt.«
Er nickte. Ihre Wangen bekamen wieder Farbe. Sie schien über den Berg zu sein. Die Zeit der schlimmsten Befürchtungen war vorbei.
Er sah plötzlich zu mir hoch, dann auf sie runter, dann wieder zu mir hoch. Der erste Gedanke, der nicht mehr rein vom Gefühl bestimmt war, faßte Wurzeln.
Als wäre es eine plötzliche Erkenntnis, sagte er langsam:»Sie sind Edward Lincoln.«
Auch für ihn erhob sich die Gewissensfrage: Sollte er aus dem Beinah-Tod seiner Freundin Profit schlagen oder nicht?
Ich blickte mich im Raum um und er auch. Die Reihen hatten sich merklich gelichtet. Ich begegnete Rodericks Augen und wußte, was er dachte; die Presse war ans Telefon gestürzt, und er war hier der einzige vom Rand Daily Star.
Er sah erneut auf das Mädchen nieder.»Sie kommt doch jetzt in Ordnung, nicht?«sagte er.
Ich machte eine unentschiedene Gebärde mit den Händen und antwortete nicht direkt. Ich wußte nicht, ob sie in Ordnung kommen würde. Ich nahm an, daß ihr Herz kaum länger als drei Minuten ausgesetzt hatte; mit etwas Glück würde ihr Gehirn also nicht geschädigt sein. Aber meine Kenntnisse waren nur die dürftigen Überbleibsel eines lange zurückliegenden Erste-Hilfe-Kurses.
Der Journalist in Roderick trug den Sieg davon. Er stand abrupt auf und sagte:»Tun Sie mir einen Gefallen? Sehen Sie zu, daß man sie nicht ins Krankenhaus oder sonstwohin bringt, bevor ich zurück bin.«
«Ich will’s versuchen«, sagte ich; und er trat schleunigst ab.
Joe, der Tontechniker, rollte das Kabel des defekten Mikrofons zusammen, nachdem er es vorsichtig aus der Steckdose gezogen hatte. Er betrachtete es zweifelnd und sagte:»Das ist so alt — ich wußte gar nicht, daß wir’s haben. Es lag eben in der Kiste. Ich wünschte zu Gott, ich hätte es nicht genommen. Dachte bloß, das geht schneller, als wenn wir auf den Ersatz aus dem Studio warten. Jedenfalls sorge ich dafür, daß es nicht noch mehr Schaden anrichtet. Ich nehme es gleich auseinander und werfe es weg.«
Conrad kam wieder an meine Seite und sah auf Katya nieder, die Anzeichen von wiederkehrendem Bewußtsein zeigte. Ihre Augenlider flatterten. Sie bewegte sich unter den Decken.
Conrad sagte:»Es ist Ihnen doch wohl klar, mein Junge, daß Sie dieses Mikrofon bis ganz kurz vor dem Unfall selbst gehalten haben.«
«Ja«, sagte ich unverbindlich.
«Und«, sagte Conrad,»wie viele Leute hier im Raum hatten auch nur die leiseste Ahnung davon, daß die einzige Hoffnung für das Opfer eines Stromschlags in sofortiger künstlicher Beatmung besteht?«