Als ich sie zuletzt gesehen hatte, war sie eine attraktive Frau in den Fünfzigern gewesen, mit jungen blauen Augen und einer scheinbar unverwüstlichen Vitalität. Ihr Gang war fast ein Tanzen, und in ihrer Stimme lag ein gesunder Humor. Im Zuchtregister der Gesellschaft rangierte sie schon beinahe bei den adligen Vollblütern, und sie besaß das, was mein Vater kurz und bündig» Klasse «nannte.
Aber jetzt, innerhalb von drei Monaten, war ihre Energie verschwunden, und ihr Blick war trüb geworden. Der Glanz in ihren Haaren, ihr federnder Gang, ihre lachende Stimme: alles war dahin. Sie wirkte eher wie siebzig als wie fünfzig, und ihre Hände zitterten.
«Nerissa«, rief Charlie bestürzt aus, denn wie ich brachte auch sie ihr weit mehr als nur Sympathie entgegen.
«Ja, Liebes. Ja«, sagte Nerissa beruhigend.»Setz dich erst mal, Liebes, und Edward gibt dir einen Sherry.«
Ich goß uns allen dreien etwas von der klaren, hellen Flüssigkeit ein, doch Nerissa rührte ihr Glas kaum an. Sie saß in einem langärmeligen blauen Leinenkleid in einem Sessel aus Goldbrokat, den Rücken der Sonne zugewandt und ihr Gesicht im Schatten.
«Wie geht’s den zwei kleinen Strolchen?«fragte sie.»Und der süßen kleinen Libby? Und Edward, mein Lieber, so dünn, das steht dir nicht. «Sie redete weiter, machte gewandt Konversation, zeigte Interesse für unsere Antworten und gab uns keine Gelegenheit, zu fragen, was mit ihr los war.
Als sie ins Eßzimmer ging, benutzte sie einen Gehstock und meinen Arm als Stütze, und der extraleichte Lunch, der auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten war, gab mir nichts von meinen verlorenen Pfunden wieder. Anschließend gingen wir zum Kaffee langsam zurück in das Sommerzimmer.
«Rauch nur, Edward. Im Schrank sind Zigarren. Du weißt, wie ich den Geruch mag… und hier raucht kaum noch jemand.«
Ich nahm an, daß man es wegen ihrer Gesundheit bleiben ließ, aber wenn sie es wünschte, würde ich es tun, obwohl ich selten und nur abends rauchte. Es waren Coronas, aber ein wenig trocken schon vom langen Liegen. Ich zündete eine an, und sie atmete tief den Rauch ein und lächelte mit echtem Vergnügen.
«Wie gut das tut«, sagte sie.
Charlie goß den Kaffee ein, doch wieder trank Nerissa kaum. Sie lehnte sich langsam in ihrem Sessel zurück und kreuzte ihre schlanken Beine.
«Also, meine Lieben«, sagte sie ruhig,»Weihnachten werde ich tot sein.«
Wir schüttelten nicht einmal den Kopf. Es war allzu leicht zu glauben.
Sie lächelte uns an.»Wie vernünftig ihr seid. Kein albernes In-Ohnmacht-Fallen, kein Getue. «Sie hielt inne.»Wie es aussieht, habe ich irgend so eine blöde Krankheit, und man sagt mir, daß da nicht viel zu machen ist. Genaugenommen fühle ich mich durch das, was sie machen, so krank. Vorher war es nicht so schlimm… aber ich habe wer weiß wie viele Bestrahlungen bekommen… und die ganzen gräßlichen Chemotherapeutika jetzt, die vertrage ich wirklich sehr schlecht. «Sie brachte wieder ein Lächeln zustande.»Ich habe sie gebeten aufzuhören, aber ihr wißt ja, wie das ist. Wenn sie können, sagen sie, sie müssen. Eine ziemlich unvernünftige Einstellung, meint ihr nicht auch? Aber egal, meine Lieben, das braucht euch nicht zu kümmern.«
«Du möchtest aber, daß wir etwas für dich tun?«tippte Charlie an.
Nerissa war erstaunt.»Wie kommst du darauf, daß ich so was im Sinn habe?«
«Oh… weil es dir so eilig war mit uns — und du weißt doch bestimmt schon seit Wochen, wie es um dich steht.«
«Edward, wie gescheit deine Charlotte ist«, sagte sie.»Ja, ich habe einen Wunsch… Edward soll etwas für mich tun, wenn er mag.«
«Natürlich«, sagte ich.
Eine trockene Belustigung schlich sich wieder in ihre Stimme.
«Hör dir erst mal an, um was es geht, bevor du solche Blankoversprechungen machst.«»Okay.«
«Es hat mit meinen Pferden zu tun. «Sie überlegte, mit schräg geneigtem Kopf.»Sie laufen so schlecht.«
«Aber«, sagte ich verblüfft,»sie sind doch in dieser Saison noch gar nicht gestartet.«
Sie ließ noch immer zwei Hindernispferde in dem Stall trainieren, wo ich aufgewachsen war, und obwohl ich seit dem Tod meines Vaters nicht mehr direkt damit in Verbindung stand, wußte ich, daß sie in der vorigen Saison beide ein paar Rennen gewonnen hatten.
Sie schüttelte den Kopf.»Nicht die Springer, Edward. Meine anderen Pferde. Fünf Hengste und sechs Stuten, die auf der Flachen laufen.«
«Auf der Flachen? Entschuldige… Mir war nicht klar, daß du Flachpferde hast.«
«In Südafrika.«
«Oh. «Ich sah sie ein wenig ratlos an.»Vom südafrikanischen Rennsport habe ich keine Ahnung. Tut mir furchtbar leid. Ich würde dir gern helfen, aber ich weiß einfach viel zu wenig, um beurteilen zu können, warum deine Pferde da schlecht laufen.«
«Es ist nett, daß du enttäuscht dreinschaust, Edward. Du kannst mir aber wirklich helfen, weißt du. Wenn du willst.«
«Sag ihm nur wie«, warf Charlie ein,»dann tut er’s auch. Er würde alles für dich tun, Nerissa.«
Zu dem Zeitpunkt und unter diesen Umständen hatte sie recht. Das Endgültige von Nerissas Zustand brachte mir scharf zum Bewußtsein, wieviel ich ihr seit jeher zu verdanken hatte, nicht so sehr an Konkretem, sondern wegen des Gefühls, daß sie da war und sich interessierte und Anteil nahm an dem, was ich machte. In meinen mutterlosen Teenagerjahren hatte das viel bedeutet.
Sie seufzte.»Ich habe meinen Trainer da unten deshalb angeschrieben, und es scheint ihm ein großes Rätsel zu sein. Er weiß nicht, wieso meine Pferde schlecht laufen, denn alle anderen, die er trainiert, kommen gut. Aber Briefe brauchen so lange — anscheinend ist die Post heutzutage auf beiden Seiten sehr launenhaft. Und deshalb, Edward, habe ich mich gefragt, ob du vielleicht… ich meine, es ist ziemlich viel verlangt, aber könntest du vielleicht eine Woche opfern und für mich da hinunterfahren und mal nach dem Rechten sehen?«
Eine kurze Stille trat ein. Selbst Charlie beeilte sich nicht, zu sagen, daß ich selbstverständlich fahren würde, wenn auch bereits feststand, daß die Frage nur sein konnte, wie, nicht ob.
Nerissa versuchte mich zu überreden.»Denn schau mal, Edward, du verstehst doch was vom Rennsport. Du kennst den Stallbetrieb und solche Sachen. Du würdest doch sehen, ob mit ihrem Training was nicht stimmt, oder? Und dann weißt du natürlich auch so gut, wie man Ermittlungen anstellt.«
«Wie man was?«fragte ich.»Ich habe noch nie in meinem Leben Ermittlungen angestellt.«
Sie wedelte mit der Hand.»Du weißt, wie man etwas herausfindet, und läßt dich durch nichts davon abbringen.«
«Nerissa«, sagte ich argwöhnisch,»du hast meine Filme gesehen«.
«Ja, natürlich. Die habe ich fast alle gesehen.«
«Gut, aber das bin nicht ich. Diese fahndungserprobten Supermänner sind doch nur gespielt.«
«Sei nicht albern, mein lieber Edward. Du könntest all die Sachen, die du im Film machst, nicht machen, wenn du nicht mutig und entschlossen wärst und mit Raffinesse etwas herauszufinden verstündest.«
Ich sah sie mit einer Mischung aus Zuneigung und Ge-nervtheit an. So viele Leute verwechselten das Image mit dem Menschen, aber daß sie es tat…
«Du hast mich schon gekannt, als ich acht war«, protestierte ich.»Du weißt, daß ich nicht furchtlos oder sonderlich entschlossen bin. Ich bin Durchschnitt. Ich bin ich. Ich bin der Junge, dem du Süßigkeiten gegeben hast, wenn er heulte, weil er vom Pony gefallen war, und dem du gesagt hast: >Mach dir nichts drausc, als er sich nicht zutraute, Jockey zu werden.«
Sie lächelte nachsichtig.»Aber seitdem hast du kämpfen gelernt. Und denk mal an den letzten Film, wo du mit einer Hand an einem Felsvorsprung gehangen hast, über einem Steilabfall von dreihundert Metern — «
«Liebe, liebe Nerissa«, unterbrach ich sie.»Ich fahre ja für dich nach Südafrika. Ich fahre bestimmt. Aber diese Kampfszenen im Film — das bin meistens nicht ich; das ist jemand von meiner Größe und meiner Statur, der wirklich Judo kann. Ich kann keins. Ich kann überhaupt nicht kämpfen. Das ist nur mein Gesicht in Großaufnahme. Und die Felsvorsprünge, an die ich mich geklammert hab — die waren zwar an einer echten Felswand, aber ich war nicht in Gefahr. Ich wäre keine dreihundert Meter tief gestürzt, sondern nur drei, in so ein Netz, wie man es bei Trapezakten im Zirkus verwendet. Ich bin sogar zwei oder dreimal gestürzt. Und unter mir ging es in Wirklichkeit keine dreihundert Meter runter, jedenfalls nicht steil. Wir haben im Tal der Felsen in Norddevon gedreht, wo zwischen den Felswänden lauter kleine Plateaus sind, auf die man die Kameras stellen kann.«