Weil ihr dies alles nicht weniger unter die Haut geht als mir. Der Anblick dieses armen sterbenden Mannes berührt sie, auch wenn sie den ganzen Tag, jeden Tag in der Woche, solche Männer sieht. Es berührt sie, wie wir uns unseres erklärten Feindes annehmen, ihn lieben im Geiste des Evangeliums, von dem ihr Goldkreuz spricht. Und meine Stimme berührt sie. Sooft ich vom Swahili ins Kinyarwanda übersetze und umgekehrt, senkt sie ergriffen die Lider. Ergriffen, weil wir – und mit jedem meiner Blicke sage ich es ihr neu – die Menschen sind, nach denen wir unser Leben lang gesucht haben.
* * *
Nicht daß wir uns von da an bei den Händen hielten – wie auch? –, aber wir behielten einander innerlich im Blick. Ob sie mir ihren langen Rücken kehrte, sich über den Patienten beugte, ihn anhob, seine Wange streichelte oder die Geräte überprüfte, an die Grace ihn angeschlossen hatte: sooft sie sich zwischendurch zu mir wandte, war ich für sie da und sie für mich. Und alles, was dann folgte – daß ich draußen vor den neonbeleuchteten Torpfosten auf das Ende ihrer Schicht wartete und sie mit niedergeschlagenen Augen zu mir herauskam und wir uns als gute, schüchterne Missionskinder nicht umarmten, sondern nur Hand in Hand wie zwei ernsthafte Studenten den Hügel zu ihrem Schwesternheim hinaufstiegen, durch eine enge Gasse, in der es nach asiatischem Essen roch, zu einer mit einem Vorhängeschloß gesicherten Tür, die sie mit ihrem Schlüssel aufschloß –, alles das war getragen von den Blicken, die wir am Bett unseres sterbenden ruandischen Patienten gewechselt hatten, und der Verantwortung, die wir füreinander gespürt hatten angesichts dieses Lebens, das hier vor unseren Augen zu Ende ging.
Weshalb wir, wenn wir uns nicht gerade liebten, Gespräche einer Art führen konnten, wie ich sie seit dem Tod von Pater Michael nicht mehr gekannt hatte – mein einziger Vertrauter in all den Jahren war Mr. Anderson gewesen: keine rechte Konkurrenz für eine schöne, lachende, verlangende afrikanische Frau, deren Solidarität allein den Leidenden dieser Welt gilt und die nichts von einem fordert, in keiner Sprache, das man nicht liebend gern gibt. Die Fakten unseres Lebens übermittelten wir einander auf Englisch. Für die Liebe sprachen wir französisch. Und für unsere Träume von Afrika, was taugte da besser als das kongolesisch gefärbte Swahili unserer Kindheit mit seinem spielerischen Gemisch aus Frohsinn und Hintersinn? Innerhalb von zwanzig schlaflosen Stunden war Hannah zu der Schwester, Geliebten und Vertrauten geworden, die mir in den langen Wanderjahren meiner Jugend so hartnäckig versagt geblieben war.
Haben wir über Schuld gesprochen – wir zwei braven Christenkinder, zur Gottesfurcht erzogen und nun auf einmal Ehebrecher vor dem Herrn? Keine Sekunde lang. Wir sprachen über meine Ehe, und ich erklärte sie, mit ganz neuer Gewißheit, für tot. Wir sprachen von Hannahs kleinem Sohn Noah, den sie bei ihrer Tante in Uganda gelassen hatte, und wünschten ihn beide herbei. Wir legten feierliche Schwüre ab und diskutierten über Politik und verglichen Erinnerungen und tranken Preiselbeersaft mit Sprudel und ließen uns Pizza kommen und liebten uns bis zum letzten Moment, bevor sie widerstrebend ihre Schwesterntracht anzieht, meinen Bitten um eine allerletzte Umarmung widersteht und den Hügel hinunter zum Krankenhaus eilt, zu dem Anästhesie-Kurs, den sie belegt hat, und dann zur Nachtwache bei ihren sterbenden Patienten, während ich mich hektisch nach einem Taxi umsehe, weil die U-Bahn seit den Terroranschlägen bestenfalls sporadisch verkehrt und der Bus zu lange braucht und die Zeit, um es gelinde zu sagen, drängt. Aber ihre Abschiedsworte klingen mir immer noch im Ohr. »Salvo« – auf Swahili, die Hände um meine Schläfen gelegt und in beglücktem Staunen den Kopf schüttelnd –, »als deine Mutter und dein Vater dich gezeugt haben, da muß ihre Liebe sehr groß gewesen sein.«
3
Stört es Sie, wenn ich das Fenster aufmache?« rief ich Fred zu, meinem weißen Chauffeur.
Der Mondeo schlängelte sich geübt durch den dichten Freitagabendverkehr, und ich, in seine Polster zurückgelehnt, durchlebte Befreiungsgefühle, die schon fast an Euphorie grenzten.
»Kein Thema, Mann«, erwiderte er markig, aber mein geschärftes Ohr hörte unter dem kumpelhaften Ton einen Hauch von Public-School-Akzent heraus. Fred war in meinem Alter und ein furioser Fahrer. Ich mochte ihn jetzt schon. Die Scheibe glitt hinunter, und warme Nachtluft strömte mir entgegen.
»Haben Sie eine Ahnung, wo’s hingeht, Fred?«
»South Audley Street, unteres Ende.« Und in der Annahme, meine Besorgnis gelte seinem Fahrstil, was nicht der Fall war: »Keine Sorge, ich liefere Sie heil ab.«
In Sorge war ich nicht, aber doch leicht verunsichert. Meine Begegnungen mit Mr. Anderson hatten sich bislang alle im Hauptquartier seines Ministeriums in Whitehall abgespielt, in einem mit üppigen Teppichen ausgelegten Verlies am Ende eines Labyrinths von grüngestrichenen Backsteinkorridoren, in denen käsige Hausmeister mit Walkie-Talkies patrouillierten. Getönte Photographien von Mr. Andersons Frau, Töchtern und Spaniels hingen an den Wänden, im Wechsel mit goldgerahmten Urkunden, die er mit seiner anderen großen Liebe errungen hatte, der Chorgemeinschaft Sevenoaks. Zwischen ebendiesen vier Wänden hatte er mir seinerzeit nach einer Reihe von »Testinterviews« durch ein geheimnisvolles »Sprachprüfungskomitee«, zu denen ich durch ein streng vertrauliches Schreiben bestellt worden war, die beeindruckende Vielfalt der Strafen enthüllt, die auf den Verrat von Staatsgeheimnissen standen. Es war eine Predigt, die er schon hundertmal gehalten haben mußte, und im Anschluß präsentierte er mir ein gedrucktes Formular, auf dem mein Name sowie Geburtsdatum und Geburtsort bereits per Computer eingetragen waren, und nahm mich, während ich unterschrieb, über seine Lesebrille hinweg nochmals gesondert ins Gebet.
»Daß Sie mir aber nicht übermütig werden, mein Junge«, ermahnte er mich in einem Ton, der mich unwiderstehlich an Pater Michael erinnerte. »Sie sind ein schlaues Bürschchen, der spitzeste Bleistift im Kästchen, wenn alles, was mir berichtet wird, stimmt. Sie beherrschen einen Haufen ulkiger Sprachen aus dem Effeff und haben einen exzellenten Ruf, den ein Dienst von unserem Format nicht so einfach übergehen kann.«
Ich wußte nicht genau, auf welchen Dienst welchen Formats er anspielte, aber er hatte mir bereits mitgeteilt, daß er ein hochrangiger Beamter der Krone sei und daß mir das zu genügen habe. Und ich fragte ihn auch nicht, welche meiner Sprachen er denn als ulkig betrachtete, wozu ich mich vielleicht hätte hinreißen lassen, wenn ich nicht in anderen Sphären geschwebt hätte – denn vereinzelt kommt selbst mir die Ehrerbietigkeit abhanden.
»Das macht Sie allerdings nicht zum Nabel der Welt, also bilden Sie sich das gütigst auch nicht ein«, fuhr er fort, immer noch in bezug auf meine Qualifikationen. »Sie werden ein TA sein, also ein Teilzeitassistent, und niedriger geht’s nicht. Sie gehören zur Truppe, aber Sie spielen im kleinen Haus, und da werden Sie bleiben, es sei denn, Sie bekommen ein Festengagement. Was nicht heißen soll, daß in den kleinen Häusern nicht oft die besten Aufführungen stattfinden, denn das tun sie. Bessere Stücke und bessere Schauspieler, sagt meine Frau Mary, und die muß es wissen. Verstehen Sie, was ich Ihnen sagen will, Salvo?«
»Ich glaube schon, Sir.«
Ich sage zu oft »Sir«, und das weiß ich auch, genau wie ich als Kind zu oft Mzee gesagt habe. Aber im Herz-Jesu-Heim war jeder, der kein Pater war, ein Sir.
»Dann wiederholen Sie mir doch bitte, was ich Ihnen gerade gesagt habe, damit wir beide ganz klarsehen«, schlug er vor – genau die Taktik, derer sich später auch Hannah bediente, um Jean-Pierre ihre Hiobsbotschaft beizubringen.