»Und die Leute, mit denen Sie zusammenkommen, werden auch eine Lügenexistenz führen. Das muß Ihnen ganz klar sein. Sie sind nicht wie wir, diese Leute. Sie sehen die Wahrheit nicht als absoluten Wert. Nicht als die biblische Wahrheit, in deren Geist Sie und ich erzogen worden sind, sosehr wir uns das auch wünschen mögen.«
Bis zum heutigen Tag weiß ich nichts Näheres über Mr. Andersons religiöse Hintergründe, die ich für freimaurerisch geprägt halte. Aber an einem hat er nie einen Zweifel gelassen: Welchem Glauben er auch anhängt, wir sind Brüder darin.
* * *
Bridget hatte mir mein Handy für einen letzten Anruf übergeben und sich sodann in das Schlafzimmer keine zwei Meter weiter verfügt; Mr. Anderson hielt im Wohnzimmer die Stellung, von wo er ebenfalls jedes Wort hören konnte. So daß ich geduckt in der kleinen Diele stand und einen Crashkurs in den Tücken des Ehebruchs absolvierte. Ich wollte nichts weiter, als Hannah meiner unsterblichen Liebe zu versichern und sie vorzuwarnen, daß wir uns entgegen meinen Beteuerungen die nächsten zwei Tage nicht würden sprechen können. Aber so, von meinem Publikum durch nichts getrennt als durch papierdünne Wände und eine klapprige Tür, blieb mir nichts anderes übrig, als meine mir gesetzlich angetraute Ehefrau anzurufen und ihrer Bandansage zu lauschen:
Sie sind mit der Mailbox von Penelope Randall verbunden. Ich bin momentan nicht an meinem Platz. Wenn Sie eine Nachricht hinterlassen möchten, sprechen Sie nach dem Signalton. Wenn Sie sich an meine Assistentin wenden möchten, fragen Sie nach Emma, Durchwahl 9124.
Ich holte Atem. »Hallo, Schatz, ich bin’s. Hör mal, es tut mir furchtbar leid, aber ich bin mal wieder zu einem meiner unzähligen millionenschweren Aufträge abberufen worden. Einer meiner ältesten und besten Unternehmerkunden. Angeblich geht es um Leben und Tod. Es soll zwei Tage dauern, vielleicht auch drei. Ich versuche dich anzurufen, aber es könnte schwierig werden.«
Wer sprach da? Niemand, den ich kannte. Niemand, den ich schon einmal belauscht hatte. Niemand, den ich hätte wiedertreffen wollen. Ich verstärkte meine Bemühungen.
»Hör zu, ich ruf dich an, sobald ich zwischendrin halbwegs zum Durchatmen komme. Ich bin absolut untröstlich, Schatz. Ach, und bei deiner Party muß ich ja echt was verpaßt haben. Sah wirklich toll aus. Dieser Hosenanzug – spitzenmäßig. Das haben alle gesagt. Es tut mir bloß so leid, daß ich so davonstürzen mußte. Fechten wir’s aus, wenn ich zurückkomme, in Ordnung? Bis dann, Schatz. Ciao.«
Bridget nahm mir das Handy wieder ab, reichte mir eine Reisetasche und blieb neben mir stehen, während ich den Inhalt inspizierte: Socken, Taschentücher, Hemden, Unterhosen, ein Waschbeutel und ein dicker grauer Pullover mit V-Ausschnitt.
»Irgendwelche Medikamente, von denen wir wissen sollten?« fragte sie. »Keine Kontaktlinsen? Keine Gleitmittel, keine Döschen mit irgendwas?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Na, dann ab mit euch beiden«, erklärte Mr. Anderson, und wenn er die rechte Hand erhoben und eines von Pater Michaels schlackrigen Kreuzen über uns geschlagen hätte, wäre ich auch nicht weiter verwundert gewesen.
4
Von meiner heutigen Warte aus ist es mir schlicht ein Rätsel, daß ich mich an diesem Abend, als ich Bridget die Treppe hinunter und hinaus auf die South Audley Street folgte, gewandet wie ein Oberlehrer aus der Provinz und mit nichts an der Hand als ein paar gefälschten Visitenkarten und der Aussicht auf ungeahnte Gefahren, für den größten Glückspilz von London, wenn nicht von ganz England hielt, für den unerschrockensten Patrioten und geheimsten Geheimagenten, doch genau so war es.
Fram hieß das Schiff des berühmten Polarforschers Nansen, eines der Helden aus Pater Michaels Pantheon großer Männer. Fram, das ist norwegisch für vorwärts, Fram, so hätte das Motto meines seligen Vaters lauten können, als er auf seinem Ketzerfahrrad über die Pyrenäen gestrampelt war – und Fram lautete nolens volens auch mein Motto, seit ich von dem »Ruf aus der Höhe« ereilt worden war, wie Pater Michael es in anderem Zusammenhang genannt hatte. Vo r w ä r t s , während ich mich für die mir bevorstehende Entscheidung wappnete, vorwärts in den lautlosen Krieg, den mein Land gegen die Schurken in natura führte, vorwärts und fort von Penelope, die mir lange schon fremd geworden war, vorwärts auf den schimmernd hellen Pfad zurück zu einem Leben mit Hannah. Und vorwärts nicht zuletzt zu Maxie, meinem geheimnisvollen neuen Herrn, und zu Philip, dem noch geheimnisvolleren Berater.
Angesichts der extremen Eile und Brisanz unserer Operation hätte ich angenommen, daß Fred, unser weißer Fahrer; schon mit heißlaufendem Motor vor der Tür warten würde, doch Bridget versicherte mir, bei den derzeitigen Verkehrsstaus plus der Polizeiabsperrung am Marble Arch kämen wir zu Fuß schneller ans Ziel.
»Das macht Ihnen doch nichts aus, Salv?« fragte sie und hakte sich bei mir unter, entweder aus Angst, ich könnte ihr weglaufen – nichts lag mir ferner –, oder weil sie zu dem Typ Mensch gehörte, der einem immerfort die Wange tätschelt oder den Rücken rubbelt, bis man – beziehungsweise ich – gar nicht mehr weiß, ob man es nun mit tätiger Nächstenliebe zu tun hat oder mit einer Einladung ins Bett.
»Um Gottes willen, nein!« beteuerte ich. »Doch nicht an so einem herrlichen Abend! Aber könnte ich mir vielleicht kurz Ihr Handy ausborgen? Nicht daß Penelope meine Nachricht übersieht …«
»Geht nicht, leider. Das ist gegen die Vorschriften.«
Hatte ich eine Ahnung, wohin wir gingen? Erkundigte ich mich danach? Nein. Das Leben eines Geheimagenten ist eine einzige Reise ins Ungewisse, das Leben eines heimlichen Liebhabers desgleichen. Bridget bestimmte das Tempo, ich trottete in meinen Secondhand-Schuhen, die mir die Knöchel wundrieben, brav nebenher. Im Schein der Abendsonne hob sich meine Stimmung immer mehr, wozu unbewußt auch Bridget beitragen mochte, die sich meinen rechten Arm unter ihre – dem Gefühl nach halterlose – linke Brust geschmiegt hatte. Von dem Licht, das Hannah in mein Leben gebracht hatte, bekamen offenbar auch andere Frauen ein paar Strahlen ab.
»Sie lieben sie echt, hm?« sinnierte sie, während sie mich durch eine Gruppe von Nachtschwärmern steuerte. »Die meisten Ehepaare, die ich kenne, liegen sich andauernd in den Haaren. Grauenhaft. Aber bei Penelope und Ihnen ist das ja scheint’s anders? Das muß wunderbar sein.«
Ihr Ohr war nur eine gute Handbreit von meinen Lippen entfernt, und sie duftete nach Je Reviens, seines Zeichens die Lieblingswaffe von Penelopes jüngerer Schwester Gail. Gail, Augenstern ihres Vaters, hatte einen Parkhausbesitzer aus niederem Adel geehelicht. Aus Rache an der Schwester und den Eltern hatte Penelope mich geheiratet. Dennoch, um zu erklären, was ich als nächstes tat, brauchte es ein ganzes Jesuitentribunal.
Denn warum sollte ein frischgebackener Ehebrecher, nur wenige Stunden nachdem er sich erstmals in seiner fünfjährigen Partnerschaft mit Körper, Seele und seiner ganzen Vergangenheit einer anderen hingegeben hat, den unwiderstehlichen Drang verspüren, seine betrogene Frau in den Himmel zu heben? Um ihr Bild, das er besudelt hat, wieder reinzuwaschen? Oder das Bild seiner selbst – vor dem Sündenfall? Holte mich inmitten meiner Euphorie meine katholische Dauerschuld wieder ein? Waren meine Hymnen auf Penelope in Wahrheit Hymnen auf Hannah, die ich für mich behalten mußte, um meine Tarnung nicht auffliegen zu lassen?
Ich war fest entschlossen gewesen, Bridget über meine neuen Auftraggeber auszuhorchen und durch listige Fragen mehr über die Zusammensetzung des anonymen Syndikats sowie über seine Verbindung zu den vielen geheimen Organen des britischen Staates zu erfahren, die sich, vor den neugierigen Blicken der Normalsterblichen verborgen, Tag und Nacht zu unserem Schutze abrackern. Doch was tat ich, während wir uns durch den fast stehenden Verkehr schlängelten? Ich stimmte aus voller Kehle einen Lobgesang auf meine Frau Penelope an, die attraktivste, aufregendste, gebildetste und treueste Partnerin, die sich ein Spitzendolmetscher und Geheimsoldat im Dienste der Krone nur wünschen konnte, dazu eine begnadete Journalistin, knallhart und doch menschlich, und eine phantastische Köchin obendrein – was ans Absurde grenzte, wenn man bedachte, wer bei uns zu Hause den Kochlöffel schwang. Natürlich schwärmte ich nicht nur, so unklug war ich nicht. Wer sich in weiblicher Begleitung durch die Rush-hour kämpft, muß auch ein klein wenig auf die negativen Seiten seiner Frau eingehen, sonst steht er über kurz oder lang alleine da.